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Erdogan sieht Komplott„Das glaubt doch keiner mehr!“

Die harten Worte des türkischen Premiers bei seiner Rückkehr aus Nordafrika lösen bei den Demonstranten in Istanbul eher Gleichgültigkeit aus.

Ob er's noch glaubt? Bild: dpa

ISTANBUL taz | „Erdogan ist so ermüdend. Er sagt immer dasselbe. Schon bevor er den Mund aufmacht, weiss man was herauskommt“. Die junge Frau am Zelt von Greenpeace auf dem besetzten Taksim-Platz im Herzen Istanbuls ist vom Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sichtlich unbeeindruckt. Dabei hatte Erdogan wenige Stunden zuvor am Istanbuler Flughafen direkt nach seiner Rückkehr von einer viertägigen Nordafrikareise den Besetzern des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks unverhohlen gedroht.

Vor zehntausend tobenden Anhängern, die zuvor von seiner Partei in Bussen zum Flughafen gebracht worden waren und dort bis 2:00 Uhr morgens auf ihn gewartet hatten, sagte er: „Die Proteste müssen sofort aufhören. Sie haben ihre demokratische Glaubwürdigkeit verloren und sind zum Vandalismus geworden. Unter die Protestierer haben sich Terroristen und Anarchisten gemischt“.

Erdogans Anhänger skandierten unterdessen: „Erdogan, wir sind bereit für dich zu sterben“ und, in Bezug auf die Besetzer des Taksim-Platzes: „Lasst uns sie alle zerquetschen“.

Nachdem Erdogan seine Anhänger zunächst aufgeputscht hatte, mahnte er sie dann allerdings, Ruhe zu bewahren: „Ihr habt euch in den letzten Tagen ruhig und reif verhalten“, lobte er die Menge. „Wir werden jetzt alle in Würde nach Hause gehen“.

Tausende Unterstützer erwarteten Ministerpräsident Erdogan am Istanbuler Atatürk-Flughafen Bild: Reuters

Erdogan will nicht nachgeben

Zwar blieb es in der weiteren Nacht daraufhin ruhig auf dem Taksim-Platz, doch wartet die AKP-Anhängerschaft nun gespannt, was ihr Ministerpräsident unternehmen wird. Die Verhandlungsversuche, die Staatspräsident Abdullah Gül und der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc in seiner Abwesenheit unternommen hatten, hat er noch von Tunis aus zurückgewiesen.

Er werde, ließ er sowohl seine Partei wie auch die Demonstranten wissen, das umstrittene Einkaufszentrum und seine anderen Großprojekte, wie den neuen Flughafen und die dritte Brücke über den Bosporus auf jeden Fall realisieren.

Einige Ideologen seiner Partei hatten in den letzten Tagen gestreut, die gesamten Proteste seien ein vom Ausland gesteuertes Komplott, um den weiteren wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der Türkei zu stoppen. Auch Erdogan sprach während seiner Rede am Flughafen vom „Zinskomplott“, das ausländische Kräfte inszeniert hätten.

Angeblich sei schon vor Wochen vorbereitet worden, große Summen von der türkischen Börse auf einen Schlag abzuziehen. Die türkische Börse ist durch die Unruhen, die durch das harte Eingreifen der Polizei in der letzten Woche entstanden waren, um gut zehn Prozent abgesackt, und die türkische Lira hat erheblich gegen den Dollar und den Euro verloren.

Erdogans Gegner lassen sich durch die Komplott-Theorie jedoch nicht beeindrucken. „Angebliche ausländische Drahtzieher“, meint Deniz, der die Nacht mit Freunden im Zelt im Gezi-Park verbracht hat, „das glaubt ihnen doch niemand mehr. Das ist doch wirklich eine alte Kamelle“.

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9 Kommentare

 / 
  • B
    bull

    Diese Scheiss Erdogan Regıerung hat sich durch dıe Abschaffung des Sitzenbleibens ın den Schulen eın dauerhaft dummes Wahlvolk gezogen.İch habe noch nie so viele dumme Türken gesehen wie ın den letzten Jahren.Die Jugendlichen hier werden in Zukunft keine Chance haben mit Europa zu konkurrıeren.Gute Nacht Türkei.Welcome ın Arabıan Land.

  • I
    Ilhan

    Ob die Menschen daran glauben oder nicht, zeigt sich spätestens nächstes Jahr an der Wahlurne. Kein Grund zur Aufregung also. Die Türkei ist nicht Syrien oder Libyen, Erdogan nicht Assad oder Gaddafi.

  • IK
    Irma Kreiten

    Auch wenn die Proteste nicht vom Ausland gesteuert sind sondern ein bemerkenswerte3r Ausdruck des Demokratieverstaendnisses der Menschen in der Tuerkei, so gibt es doch Versuche, diese fuer aussenpolitische Interessen zu instrumentalisieren. Das sieht man gerade auch an der deutschen Presse, die in einem Artikel nach dem anderen behauptet, es handele sich bei den Protesten um einen Aufstand der Saekularen gegen die religioese Politik Erdogans. Instrumentalisierung ist auch, wenn eine Delegation der deutschen Linkspartei explizit nach Istanbul reist, um dort gegen die AKP zu demonstrieren. Den Hinweis an Sevim Dagdelen auf ihrer Facebook-Seite, dass so etwas weder konstruktiv ist noch dem Wesen der ueberaus mannigfaltigen Protestbewegung entspricht samt dem Hinweis auf die von der Bilgi-Universitaet vorbereitete Studie, beantwortet sie mit meiner Sperrung von ihrer Seite. Wer so wenig Kritik und Dialog kann, kann auch anderen keine Demokratie vermitteln und hat wohl eher andersgelagerte Interessen. Man muss sich mal vorstellen, die BDP, AKP oder CHP kaemen nach Deutschland, um dort gegen CDU, SPD und FDP zu demonstrieren, welcher deutsche Politiker wuerde das wohl wohlwollend aufnehmen oder ueberhaupt akzeptieren? Wasser auf die Muehlen von Verschwoerungstheoretikern ist auch das Verhalten von Organisationen wie AI, die in Bezug auf Grundrechtsverletzungen in Deutschland nicht den Mund aufbekommen, hier aber sofort auf den Zug aufspringen.

  • I
    Irmi

    Erdogans Anhänger skandierten unterdessen: „Erdogan, wir sind bereit für dich zu sterben“ und, in Bezug auf die Besetzer des Taksim-Platzes: „Lasst uns sie alle zerquetschen“.

     

    Werden solche Leute bezahlt um das zu sagen, oder haben die keine Möglichkeit selbst zu denken ?

     

    Erdogan hat recht, dieses Land hat Ansehen verloren, nicht durch den Protest, sondern durch seine Ideologie. Hoffentlich zieht die EU daraus die Konsequenz die Türkei nicht in die EU aufzunehmen.

  • B
    Bewegung

    Hallo transmet, ich weiß nicht wer du bist - sollte ich das als taz-Leser? ... da du sehr persönlich schreibst. Wie auch immer, ich möchte dir ganz besonders DANKEN für deinen ausführlichen und großartigen Bericht/Brief.

    Es ist toll, wie sich rumspricht, was wirklich dort passiert. Heute rief mich ein Freund in München an, der sonst nichts mit türkischer Politik am Hut hat: "du, was die Medien erzählen ist ja gar nicht wahr. Mein Sohn ist zum Urlaub in Istanbul und hat sich total in die fantastische Atmosphäre verliebt, die die Demonstranten untereinander kreieren"

    Dem steht gegenüber ein fanatischer Premier, seine islamistische Partei und deren wenig hellen Anhänger ("Erdogan erlaube uns die Demonstranten zu zerquetschen" ist eine ihrer Parolen), die ihre eigene Bosheit und Gewaltbereitschaft auf den friedlichen Volksaufstand projezieren, Unsinn von Vandalen und Terroristen verbreiten (besonders über die AKP-hörigen Medien), während in Wirklichkeit gerade das Gegenteil der Fall ist.

    Es ist wie du sagst: was da gerade in der Türkei passiert ist ungeheuer berührend, mitreißend, hoffnugsspenden.

    Wir alle sind gefordert, dies in unseren Ländern zu unterstützen. Auch in vielen deutschen Städten finden an diesem Wochenende wieder Solidaritäts-Demos statt. Bitte geht hin! Und helft die unterdrückten Nachrichten und Bilder zu verbreiten.

    Gern leite ich deinen Brief weiter, der mich sehr bewegt hat - habe auch Türkische Freunde und Verwandte, die mich/uns auf dem Laufenden halten. Wir sind mit euch, so gut wir können!

    Nochmals großes Danke - solche anschaulichen Erfahrungsberichte von Beteiligten sind sehr wertvoll!

  • F
    flipper

    Interessant ist ja schon, dass Erdogan immer diese Leier von den ausländischen Provokateuren anstimmt - klingt verdächtig nach dem, was seine Kollegen in den Nachbarländern im "Frühling" immer behauptet haben. Einigen von denen ist es nicht gut bekommen. Interessant ist auch die Bigotterie, mit der er gleichzeitig die Revolution in Syrien unterstützt.

    Assad ist bestimmt sogar mit 90% gewählt worden.

    Gleichfalls interessant ist, wie unsere Demokraten in den Regierungen des Westens darauf reagieren, nämlich so gut wie gar nicht, man könnte sich mal wieder schämen...

  • MC
    Murat Cakir

    @von Ihr the grimreaper: Sie natürlich mehr Ahnung. Erstens. es geht nicht mehr ein Einkaufszentrum oder nur um Gezi Park. In 80 Städten gehen Hunderttausende auf die Straße, weil sie sich nicht bevormunden lassen wollen. Es sind überwiegend Menschen, die keiner Partei angehören und sich auch von Kemalisten oder anderen Nationalisten benutzen lassen. Einfach mal die jüngste Studie der Bilgi Universität lesen. Sie werden sehen: Lesen bildet.

     

    Zweitens: "Kentsel dönüsüm" ist Gentrifizierung und nichts anderes. Ausverkauf von öffentlichen Güter an private Kapitaleigner. Schon mal die neue Silhouette von Istanbul gesehen? Die Stadt wird nicht nur entkernt, sondern gleichzeitig werden die angestammte soziale Zusammensetzung verändert.

     

    Nach den Tagen des Widerstandes steht eins fest: nichts mehr wird so sein, wie bisher. Und: 50% hin oder her - Erdogan war gestern.

  • IT
    Ihr the grimreaper

    Das Jürgen keine Ahnung hat sieht man daran das dort angeblich ein einkaufszentrum entstehen soll. Die endgültige Nutzung dieses Gebäudes steht erstens nicht fest, zweitens eignet sich so ein Gebäude gar nicht als einkaufszentrum .

    Für interessierte : es gibt ein animationsvideo auf youtube.

    Weiterhin hat Erdogan eine städte bauliche initiative gestartet.

    Der Name: 'kentsel donusum'.

    Im verlauf dieser initiative wir es sicherlich nicht nur einfach erdbeben sichere gebäude geben, es werden auch parks und grünflächen entstehen. Sowas geschieht natürlich nicht über nacht.

  • T
    transmet

    Liebe Freunde,

     

    ich würde euch gerne ein bisschen über die Situation hier in der

    Türkei

    schreiben, damit ihr - neben den ganzen Medienberichten - einen

    Eindruck von

    meiner persönlichen Erfahrung bekommt.

     

    Aus der Tatsache, dass die meisten von euch mich bis jetzt noch nicht

    persönlich kontaktiert haben, schließe ich, dass euch die Heftigkeit

    und das

    Ausmaß der Situation nicht bewusst sind. Wir sind wahrscheinlich alle

    abgestumpft durch Kriegsmeldungen aus der ganzen Welt, sodass

    Ereignisse wie

    diese uns nicht wirklich berühren, solange sie weit genug weg sind.

     

    Durch Facebook posts von wenigen von euch weiß ich, dass ihr die

    Situation

    verfolgt, aber wie gesagt glaube ich, dass eine persönliche

    Berichterstattung manchmal mehr bewegen kann:

     

    Seit Freitagnacht habe ich kaum geschlafen. Wenn ich nicht auf der

    Straße

    bei den Protesten bin (was ich meistens bin), sitz ich vor dem

    Computer (im

    Büro oder zu Hause) und verfolge die Geschehnisse, die sich von

    Istanbul auf

    die ganze Türkei ausgebreitet haben. Seitdem Freitagmorgen die

    friedlichen

    Umweltaktivisten im Gezipark brutal von der Polizei angegriffen

    wurden,

    haben immer mehr Leute gesagt: Jetzt reichts! Leute, die sonst noch

    nie auf

    einer Demonstration waren oder sich auch noch nie für Politik

    interessiert

    haben, einfach ALLE, die genug von Erdogans Willkür haben und alle die

    Angst

    haben, dass ihre Meinungsfreiheit und andere demokratischen Rechte

    bald gar

    nicht mehr vorhanden sein werden (Türkei ist nach China das Land mit

    den

    meisten inhaftierten Journalisten und anderen Unschuldigen, denen eine

    Mitgliedschaft in irgendwelchen Organisationen vorgeworfen wird, die

    angeblich die Regierung stürzen wollen, die meisten darunter sind

    Journalisten, alte Militärsoffiziere oder Kurden). Es ist

    unbeschreiblich,

    was für eine Stimmung unter den Demonstranten herrscht, es geht schon

    lange

    nicht mehr "nur" um die Bäume im Gezipark, die für das Einkaufszentrum

    gefällt werden sollten: die verschiedensten Gruppen, die sich sonst

    bekriegen oder zumindest überhaupt nicht einer Meinung sind

    (Kemalisten,

    Kurden, Sozialisten, Nationalisten, Galatasaray Fans, Fenerbahce Fans,

    Besiktas Fans) demonstrieren, kämpfen und feiern zusammen, Tag und

    Nacht!

    Wenn dich jemand anrempelt entschuldigt er sich, alle helfen sich

    gegenseitig, alle lächeln sich gegenseitig an, alle passen auf, dass

    kein

    Müll im Gezipark und auf dem Taksimplatz liegen bleibt. Ich bekomme

    schon

    wieder eine Gänsehaut beim schreiben.

     

    Tagsüber ist im Gezipark eher eine fröhliche Festivalstimmung, während

    abends die Proteste aggressiver werden: Freitag und Sonntagnacht sind

    wir

    (ich, mein Freund und andere Freunde) in Besiktas gewesen, wo wir mit

    Hunderten von Demonstranten den Gasbomben und Wasserwerfern der

    Polizei

    ausgesetzt waren. Es wird CR-Gas eingesetzt, das schlimmer ist als

    normales

    Tränengas, von dem einem übel wird und das die Atemwege blockiert. Es

    gibt

    viele, die sich übergeben müssen oder ohnmächtig werden von dem Gas,

    es soll

    auch jemand an den Folgen des Gases gestorben sein. Menschenrechtler

    und

    Ärzte gehen von 3000 Verletzten aus, davon viele schwerverletzt, die

    genaue

    Zahl weiß man nicht, es gibt viele verschiedene Informationen und man

    weiß

    nicht, welchen man glauben kann (die Regierung bestätigt nur ein

    Zehntel

    davon). Die offizielle Zahl der Toten ist 2, ich gehe aber allein

    wegen der

    Infos, die ich von Freunden (bzw. der Mutter meines Freundes, dessen

    Freundin ihren Sohn verloren hat), bekommen habe (also nicht über die

    sozialen Medien) davon aus, dass die inoffizielle Zahl der Toten

    größer ist.

    Die Polizei schlägt mit Knüppeln auf einfach nur am Ufer sitzende

    Leute ein

    und zielt z.T. mit den Gaspistolen und den Wasserwerfern direkt auf

    die

    Menschen (was natürlich streng verboten ist), was bis jetzt zu den

    krassesten Verletzungen geführt hat (man muss fairer Weise sagen, dass

    es

    nicht alle Polizisten sind, die so extrem aggressiv sind, deswegen

    halte ich

    nicht so viel von den Hassparolen gegen die Polizei, es geht ja auch

    mehr um

    de Befehlsgeber). Am Freitag haben sie eine Gasbombe in die

    Metrostation am

    Taksimplatz geworfen, die ich jeden Tag benutze. Sie hatten vorher in

    der

    Bahn durchsagen lassen, das die Luft rein sei und die Leute, die Angst

    hatten auszusteigen und hochzugehen, herausgelockt, um dann die

    Gasbombe

    reinzuwerfen und die Türen oben dicht zu machen!!!!!!! Ich bin sooo

    wütend

    geworden. Seit Freitag haben die meisten Leute gelernt, wie man mit

    dem Gas

    umgeht: alle haben ein Halstuch um, Gasmasken und Schwimmbrillen (der

    Verkauf von billigen Pappgasmasken und Schwimmbrillen rund um den

    Taksimplatz boomt ?) dabei, alle haben Essig und Sprühflaschen, in

    denen

    eine Lösung von Talcid (einem Magenmedikament) und Wasser ist, dabei,

    beides

    hilft gegen das Gas. Einige tragen auch professionelle Gasmasken und

    Helme.

    M. und ich sind mit unseren Snowboardhelmen und Schneebrillen

    unterwegs plus

    der Restausrüstung. Für diejenigen, die unausgerüstet kommen, gibt es

    im

    Gezipark genügend Stände, an denen alles umsonst verteilt wird, auch

    Kekse,

    Kuchen, Börek und Getränke werden von Freiwilligen an Ständen

    verteilt.

    Gesponsert werden die Sachen von allen, genommen, von denen, die es

    wirklich

    brauchen (z.B. hungrige Demonstranten, die seit Freitag jede Nacht auf

    dem

    Taksimplatz verbringen).

     

    Ich hatte am Freitag und am Samstag das erste Mal richtig Angst um

    mein

    Leben. Wir wurden sowohl vom unteren Teil des Bulevars als auch von

    oben

    eingegast und als wir in die Hinterstraßen geflüchtet sind, haben sie

    auch

    dorthin Gasbomben geworfen. Wir sind an einem Auto vorbeigelaufen, in

    das

    eine Gasbombe geworfen wurde und die Scheiben zersprungen waren und

    eine

    Frau mit Kopftuch lag fast ohnmächtig auf dem Fahrersitz eines anderen

    Autos. Die Frau haben wir mit Essig und Talcid-Spray wieder

    aufgepäppelt,

    bevor wir weitergerannt sind, um einen Weg zu finden, um zu unserem

    Auto zu

    kommen. In der Nacht wurde dort auch in eine Wohnung eine Gasbombe

    geworfen.

    In den Hinterstraßen machen Anwohner ihre Türen auf, stellen Essig und

    Wasser auf die Fensterbänke und jubeln den Demonstranten zu (jetzt

    kommen

    mir die Tränen beim Schreiben), es ist einfach sooo krass, wie viele

    Leute

    dabei sind und diesen Volksaufstand unterstützen. In Etiler, wo ich

    wohne -

    alle, die mich besucht haben, wissen, dass es ein Reichenviertel ist,

    der

    Hamburger Westen Istanbuls - fangen alle jeden Abend pünktlich um 21h

    an,

    mit Töpfen und Kochlöffeln Lärm zu machen und hupend durch die Straßen

    zufahren. Freitagnacht, in der ersten Nacht, liefen alle durch die

    Straßen

    unseres Viertels und riefen: Etiler, wacht auf, Besiktas braucht uns!!

    Seitdem findet dieser Protest in fast allen Stadtteilen (außer in den

    AKP

    Stadtteilen natürlich) Istanbuls und inzwischen in über 70 von 81

    Provinzen

    der Türkei statt! So etwas hat es noch nie gegeben in der Türkei. Auch

    wenn

    die politische Einstellung dieser ganzen Leute auf der Straße total

    unterschiedlich ist, es ist total egal, welche Ideologie sie antreibt,

    es

    ist egal, ob sie dort mit einer Kommunismus-Fahne, einer Che-Fahne,

    einer

    Atatürk-Fahne oder mit ihren Fußballfahnen wedeln, das einzige, was

    zählt

    ist, dass sie alle eine Einheit haben bilden können, mit der sie

    versuchen,

    ihre demokratischen Grundrechte einzufordern! Bei dieser ganzen

    Revolutionseuphorie sollte man aber trotzdem nicht vergessen, dass

    Erdogan

    natürlich kein Diktator ist, sondern demokratisch gewählt wurde und

    ca. 50 %

    der Bevölkerung - zumindest noch bei der letzten Wahl - hinter ihm

    stehen/standen (?). Vergleiche mit Hitler sind deswegen total fehl am

    Platz.

    Erdogan ist trotzdem ein autoritärer Spinner, der viele Dinge im

    Alleingang

    entscheidet und inzwischen jegliche Bodenhaftung verloren hat. Er

    provoziert

    die Demonstranten mit seiner arroganten Haltung und mit seiner

    Drohung, er

    könne auch eine Million Menschen zusammentrommeln, die angeblich

    ungeduldig

    zu Hause warten würden und auf die Demonstranten hetzen. Das würde

    dann

    Bürgerkrieg bedeuten! In letzter Zeit (und auch in den Zeiten vor

    Erdogan

    und der AKP) sind aber viele verfassungswidrige Dinge passiert (u.a.

    Festnahmen wegen Meinungsäußerung) und deswegen fordert das Volk jetzt

    mit

    dieser Bewegung seine demokratischen Grundrechte ein.

     

    Unsere einzigen Informationsquellen sind Facebook, Twitter und Halk TV

    und

    Ulusal, beides Sender der kemalistischen CHP Partei (Republikanische

    Volkspartei, größte türkische Oppositionspartei), den man auch online

    als

    Livestream verfolgen kann. Bei den sozialen Netzwerken kann man sich

    jedoch

    nicht sicher sein, welche Meldungen stimmen und welche nicht, es gibt

    auch

    viele Provokateure und Zivilpolizisten unter denjenigen, die dort

    Nachrichten verbreiten. Die türkischen Medien haben bis vor kurzem gar

    nicht

    berichtet, sondern lieber ihre Kuppel, Koch- und Superstarshows und

    ihre

    Serien weitergesendet. Der Nachrichtensender NTV hat einen

    Dokumentarfilm

    über Pinguine gesendet! Die Strafe dafür ist eine massiver Boykott

    aller

    Unternehmen der Dogus Gruppe (Besitzer: Ferit Sahenk) zu denen auch

    der

    Privatsender NTV gehört (Restaurantketten, die Garantie Bank,

    türkische

    Filialen vieler Automarken (Volkswagen, Audi, Porsche, Bentley,

    Lamborghini,

    Bugatti, Seat, Skoda, Scania) Immobilienunternehmen, Hotelketten etc.

    Auch

    vor den Sendern und Zeitungen der Mediengruppe Dogan, zu der ein

    Großteil

    der Fernsehkanäle und viele Zeitungen gehören, stehen jeden Tag mehr

    Demonstranten und buhen die regierungsnahen Medien aus und fordern die

    Mitarbeiter zur Kündigung auf, was viele bis jetzt auch gemacht haben

    ?. Es

    ist ein Portal gegründet worden, in dem Firmen gesammelt werden, die

    bereit

    sind sofort Angestellte der Medien, die nicht berichten, bei sich

    anzustellen. Innerhalb von 24 Stunden wurde diese Twitternachricht

    2000mal

    retweeted und die Firmen in dem Portal haben schon viele Bewerbungen

    bekommen...Starbucks und Kitchenette haben in der ersten Nacht die

    fliehenden Demontranten nicht reingelassen und werden deswegen

    boykottiert

    (Starbucks verteilt jetzt umsonst Essen, aber das ist den Leuten egal,

    die

    vergessen die 1. Nacht nicht). Sogar die Fillialen dieser

    boykottierten

    Restaurants in der Schickimicki-Straße von Etiler (!) sind leer! Das

    hätte

    keiner gedacht, dass sogar die satten Menschen so breit an diesem

    Protest

    teilnehmen würden, alle sind überrascht und voller Hoffnung, viele

    erfahren

    zum ersten Mal, dass man durch Zusammenschluss und politisch

    aktif-werden

    etwas bewegen kann. WAHNSINN!!!

     

    Dies ist ein Volksaufstand, der über soziale Medien ins Rollen

    gekommen ist

    ohne eine Gruppe, eine Partei oder eine Person als Anführer. Je mehr

    Videos

    und Bilder um die Welt gehen, desto wirkungsvoller. Je mehr Beweise

    von

    polizeilicher Gewalt existieren, umso besser.

     

    Ich möchte euch bitten, so viele Informationen wie möglich

    weiterzugeben, so

    viele Proteste wie möglich zu organisieren, um die deutsche Regierung

    zu

    einer Stellungnahme zu drängen. Je mehr die Öffentlichkeit in der Welt

    darauf aufmerksam wird, je mehr Regierungen von anderen Ländern

    Erdogans

    Vorgehen kritisieren (oder ihm sogar den Empfang verweigern wie der

    marokkanische König Mohammed VI), desto größer wird der Druck auf

    Erdogan

    werden, seinen Kurs zu ändern.

     

    Gestern Nacht wurden 16 Menschen in Izmir festgenommen, wegen der

    Nachrichten, die sie auf Twitter gepostet haben. M. und ich haben

    unsere

    Videos von Sonntagnacht und alle Kommentare, an denen man erkennt,

    dass wir

    auch da waren, wieder rausgenommen, aus Angst festgenommen zu werden.

    Ich

    denke zwar nicht, dass die Polizei die 1000en von Menschen wird

    festnehmen

    können, aber wenn jemand wie ein Organisator (oder aus Sicht der

    Polizei ein

    "Aufhetzer") schreibt, versuchen sie, diejenigen festzunehmen. Der

    Sinn

    dieser Festnahmen ist natürlich genau das: Angst machen.deswegen

    möchte ich

    eigentlich ohne Angst weiter berichten, was hier passiert.

     

    Ich könnte noch ewig so weiterschreiben, ich bin total überwältigt,

    erschöpft und emotionsbeladen, könnte immer jeden Moment anfangen, zu

    weinen

    aus Wut und Ergriffenheit. Leitet diesen Brief gerne weiter, danke