Erdogan geht verschärft gegen Gegner vor: Festnahmen in Istanbul
Der türkische Präsident entlässt 4.000 Staatsbedienstete und verbietet Heiratsshows. Und auch der Zugang zu Wikipedia wurde gesperrt.
Mit einem am Samstag erlassenen Notstandsdekret wurden auch Heiratsshows im Fernsehen verboten, zudem blockierte die Regierung den Zugang zu Wikipedia. UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra'ad Al Hussein und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu äußerten scharfe Kritik.
Mit dem Notstandsdekret wurden 3.974 Staatsbedienstete entlassen, darunter 1.200 Angehörige der Streitkräfte. Auch 1.127 Angestellte des Justizministeriums sowie 201 Mitarbeiter der Religionsbehörde Diyanet wurden gefeuert. Auch die Wahlkommission, das Verfassungsgericht und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte waren betroffen.
Unter dem Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Militärputsch im vergangenen Juli verhängt worden war, wurden bislang rund 120.000 Staatsbedienstete entlassen, mehr als 47.000 wurden inhaftiert. Betroffen sind vor allem mutmaßliche Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dessen Bewegung von Ankara für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.
Aber auch kurdische Aktivisten, Oppositionsanhänger und Regierungskritiker wurden entlassen. Durch das neueste Dekret wurden 484 Dozenten und Forscher sowie 98 Verwaltungsmitarbeiter von Universitäten ihrer Posten enthoben. Darunter waren auch Unterzeichner einer Petition für Frieden mit den Kurden, wie die Zeitung Daily News berichtete.
„Klima der Angst“
UN-Menschenrechtskommissar Al Hussein kritisierte, bei einer so großen Zahl an Entlassungen sei es „höchst unwahrscheinlich, dass diese Suspendierungen und Festnahmen den Verfahrensregeln entsprechen“. Er sei „äußerst beunruhigt“ über den im April verlängerten Ausnahmezustand und über das „Klima der Angst im Land“, erklärte er am Montag.
Auch die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) äußerte scharfe Kritik. „Die Grundrechte und Freiheiten werden durch die Notstandsdekrete zerstört“, schrieb ihr Vorsitzender Kilicdaroglu in einer Erklärung zum 1. Mai. Er kritisierte insbesondere die Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Ausnahmezustand.
Die Polizei ging am 1. Mai in Istanbul mit Tränengas gegen Demonstranten vor, die trotz eines Verbots zum zentralen Taksim-Platz zu marschieren versuchten. Sie entrollten Banner mit der Aufschrift „Lang lebe der 1. Mai. Nein zum Diktator“. Der symbolträchtige Platz, auf dem es im Sommer 2013 große Proteste gegeben hatte, war weiträumig abgesperrt.
70 Menschen habe die Polizei im Stadtteil Besiktas in Gewahrsam genommen, berichtete der Sender NTV am Montag. Im Stadtteil Mecediyeköy gab es nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten, die zum zentralen Taksim-Platz laufen wollten. Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, mehrere Menschen seien festgenommen worden.
Taksim-Platz abgesperrt
Die Gegend um den Taksim-Platz war weitläufig abgesperrt. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu waren mehr als 30.000 Sicherheitskräfte in Istanbul im Einsatz.
Für Gewerkschaften hat der Taksim-Platz eine besondere Bedeutung. Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine Demonstration mit rund 500.000 Teilnehmern. Mindestens 34 Menschen starben. Bis heute ist unklar, wer die Täter waren.
Mit dem Notstandsdekret von Samstag wurden auch Heiratsshows im Fernsehen verboten. Sie erfreuen sich in der Türkei großer Beliebtheit, stoßen aber bei konservativen Muslimen auf Kritik. Jedes Jahr gibt es tausende Beschwerden dagegen. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus hatte im März kritisiert, die Shows passten nicht zu türkischen Sitten.
Die Opposition beklagt seit langem einen Missbrauch der Dekrete zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Am Samstag wurde auch der Zugang zum Online-Lexikon Wikipedia von der Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) blockiert. Internetnutzer konnten Wikipedia nur noch mit technischen Hilfsmitteln wie VPN-Verbindungen aufrufen.
Erdogan gegen Wikipedia
Medienberichten zufolge hatten die Behörden Wikipedia zuvor aufgefordert, Inhalte zur „Terrorunterstützung“ sowie Angaben zu löschen, wonach die Türkei mit Terrorgruppen kooperiert. Anlass für die Sperrung war möglicherweise eine Aktualisierung der Seite zu Erdogan, auf der das per Referendum gebilligte Präsidialsystem als Form der „Diktatur“ kritisiert wurde.
„Zugang zu Informationen ist ein grundlegendes Menschenrecht“, schrieb Wikipedia-Gründer Jimmy Wales auf Twitter. Im Kampf für dieses Recht stehe er an der Seite des türkischen Volkes. Österreichs Bundeskanzler Christian Kern nannte die Entwicklung „äußerst besorgniserregend“. „Wir müssen unsere Beziehungen zur Türkei neu ordnen“, forderte er in Brüssel.
Die Türken hatten bei einem Referendum am 16. April mit knapper Mehrheit einer umstrittenen Verfassungsänderung zugestimmt, die Präsident Erdogan deutlich mehr Macht gibt. Die Opposition sieht darin einen Schritt zu einer Ein-Mann-Herrschaft und wirft der Regierung die Manipulation der Abstimmung vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen