Erdoğan geht gegen Kritiker vor: Der Jubel scheint verfrüht
Der türkische Präsident will Popstar Sezen Aksu zwar nicht mehr „die Zunge herausreißen“. Doch die Repression gegen Journalisten wird härter.
Es war ein schockierendes Zitat des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan. „Wer unsere Religion beleidigt, dem müssen wir die Zunge herausreißen, wenn nötig“, sagte er vor einigen Tagen im Anschluss an das Freitagsgebet in einer der größten Istanbuler Moscheen.
Anlass war ein fast vier Jahre altes Lied der türkischen Popdiva Sezen Aksu, das diese zur Neujahrsfeier 2022 neu herausgebracht hatte. In diesem völlig unpolitischen Song, „Şahane bir şey yaşamak“ (Wie schön ist das Leben) findet sich eine Liedzeile „Grüßt mir die ignoranten Adam und Eva“, ein augenzwinkernder Verweis auf die „Erbsünde“, den religiöse Fanatiker zum Anlass nahmen, in einem bedrohlichen Aufmarsch vor die Villa der Diva zu ziehen.
Statt diese Fanatiker zurechtzuweisen, stimmte Erdoğan in die Kritik an Aksu mit ein. Zwar nannte er ihren Namen nicht, aber die Drohung, wie man mit den Beleidigern der Religion umgehen müsste, war eindeutig auf Sezen Aksu bezogen.
Sezen Aksu selbst schwieg zunächst, dafür redeten andere. Rund 200 Künstler unterschrieben eine Erklärung, in der sie sich mit ihr solidarisierten.
Keine Frau der Opposition
Doch äußerten sich nicht nur die üblichen Verdächtigen. Denn Sezen Aksu ist durchaus keine Vorzeigekünstlerin der Opposition. Sie hat sich nie politisch geäußert, viele Konservative glauben, sie sei eine der Ihren. So schrieb selbst das inoffizielle Regierungsblatt Yeni Şafak, Sezen Aksu habe eine solche Reaktion nicht verdient.
Andere Blätter berichteten, noch während der Erdoğan-Rede in der Moschee habe sein Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun versucht, anwesende Journalisten davon abzuhalten, das Zitat zu erwähnen. Doch da konnte man die Rede bereits auf Youtube verfolgen.
Sezen Aksu äußerte sich dann doch noch – mit einem neuen Song, „Avcı“ (Jäger). Darin die Zeile: „Ich bin die Beute, du der Jäger. Los, schieß schon (…) Du kannst mich nicht töten. Ich habe meine Stimme, mein Instrument und mein Wort.“
Angesichts der Protestwelle im Land machte Erdoğan überraschend einen taktischen Rückzug. In einem Interview im TV-Sender NTV sagte er, er hätte Sezen Aksu gar nicht gemeint. Doch der Jubel einiger Künstler scheint verfrüht. Gegenüber dpa hatte der Musiker Mahmut Çınar gesagt, man könne daran sehen, dass die Kunst in der Türkei trotz aller Repression immer noch unglaublich stark sei. „So stark, dass sie sogar den Präsidenten dazu bringt, innezuhalten, nachzudenken und etwas zu bereuen“.
Fernsehjournalistin festgenommen
Doch Erdoğan denkt gar nicht daran, innezuhalten und etwas zu bereuen. In derselben TV-Sendung, in der er sich wegen Sezen Aksu herausredete, bedrohte er persönlich die Journalistin Sedef Kabaş. Die prominente Fernsehjournalistin war festgenommen und verhaftet worden, nachdem sie in einer Talkrunde über den Fall Sezen Aksu eine Volksweisheit zitiert hatte, die Erdoğan prompt auf sich bezog.
Darin heißt es: „Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er nicht zum König. Stattdessen wird der Palast zum Stall.“ Auf Anordnung des Generalstaatsanwalts wurde Sedef Kabaş mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, zur Polizei gebracht und noch am selben Tag von einem Haftrichter wegen Präsidentenbeleidigung in Untersuchungshaft gesteckt. „Sie wird dafür bezahlen“, kündigte Erdoğan an, womit klar ist, dass Sedef Kabaş die Welt außerhalb des Gefängnisses nicht so schnell mehr wiedersehen wird.
Um zu zeigen, wer beim Kulturkampf in der Türkei am längeren Hebel sitzt, erließ Erdoğan ein Dekret, das am Samstag im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Darin werden Maßnahmen gegen TV- Programme mit „schädlichen Inhalten“ angekündigt. Schwammig heißt es, es gehe um Sendungen, die den „fundamentalen Werten“ des Landes zuwiderlaufen. Was das ist, definiert Erdoğan im Zweifel selbst.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA entwerfen UN-Resolution zum Krieg in der Ukraine ohne jede Kritik an Russland
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen