Erdbebengefahr in der Türkei: Istanbul fürchtet das große Beben
Nach einem schweren Erdstoß am Mittwoch haben viele Istanbuler die Stadt verlassen oder schlafen in Zelten. Die größte Gefahr steht noch bevor.

Die Einwohner der größten Stadt der Türkei hatten da gerade eine unruhige Nacht hinter sich. Viele Menschen, vor allem in den Bezirken entlang des Marmarmeeres auf der europäischen Seite der Stadt, die durch ein Erdbeben am meisten gefährdet wären, haben die Nacht in Parks oder im Auto verbracht. Selbst im Gezi-Park, dessen angedrohte Rodung 2013 zu der ersten großen Protestbewegung gegen Recep Tayyip Erdoğan geführt hatte, wurden erstmals seit 12 Jahren wieder Zelte aufgebaut.
Andere dagegen sind bereits geflüchtet. Am Abend bildeten sich an den Ausfahrtstraßen Istanbuls lange Schlangen – alle, die ein Wochenendhaus in der Umgebung haben, sind offenbar erst einmal dorthin ausgewichen. Die Behörden haben am Mittwochabend zunächst einmal mit der Schließung der Schulen für zwei Tage reagiert. Gegen Mittwochabend zeichnete sich dann auch ab, dass es entgegen erster Meldungen doch eine ganze Reihe von Verletzten gegeben hatte. Viele Menschen waren zu Schaden gekommen, als sie in Panik ihre Häuser verließen oder gar aus dem Fenster sprangen.
Vorbereiten auf den Notfall
Für die meisten der knapp 20 Millionen Istanbuler, die nicht geflüchtet waren oder im Park ihre Zelte aufgeschlagen hatten, stellte sich am Mittwochabend die Frage, wie sie sich auf ein mögliches Beben in der Nacht vorbereiten sollten. Experten empfehlen, ein Notgepäck bereitzuhalten und Vorkehrungen zu treffen, um sein Haus im Notfall schnell verlassen zu können. Also eine Tasche mit den notwendigen Papieren, Laptop und Ladegeräten, Medikamenten und warmer Unterwäsche im Hauseingang bereitstellen und darauf hoffen, dass diese Vorsichtsmaßnahmen überflüssig sein werden.
Für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war das glücklicherweise der Fall, aber wird es in den kommenden Nächten auch so sein? Die überwiegende Anzahl der Erdbebenexperten, die den ganzen Mittwochabend in den diversen Nachrichtensendern interviewt wurden, hatten wenig zur Beruhigung der Lage beizutragen.
Der sogenannte Nordanatolische Graben, an dem quer durch die gesamte Türkei mehrere Erdplatten aneinander stoßen, verläuft im Westen des Landes unter dem Marmarameer und dann weiter in die Ägäis bis zu den griechischen Inseln. Deshalb war das Beben von Mittwochmittag auch in Nordgriechenland zu spüren.
Nachdem die sogenannte „Faultline“ in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Osten und der Mitte der Türkei mehrfach gerissen und es zu schweren Beben gekommen war, baut sich nach Ansicht der Experten die größte Spannung nun im Westen, unter dem Marmarameer auf. Sollte es zu einem größeren Bruch entlang dieser Anstoßkante zwischen verschiedenen Platten kommen, könnte sich ein Erdbeben mit einer Stärke bis 7,5 auf der Richterskala entladen.
Zehntausende Tote möglich
Für Istanbul wäre das eine Katastrophe, die die Stadt verwüsten und womöglich Zehntausende Tode nach sich ziehen würde. Präsident Erdogan meldete sich am Mittwochabend mit der Botschaft, alle zuständigen Stellen seien in erhöhter Alarmbereitschaft. Der inhaftierte Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, dem eigentlich das Krisenmanagement bei einer Katastrophe zustehen würde, meldete sich aus dem Gefängnis und bedauerte, dass er in dieser Stunde der Not nicht bei seinen Bürgern seien könnte.
Das Hochsicherheitsgefängnis, in dem er und viele andere Kritiker Erdogans festgehalten werden, steht in Silivri und damit just in dem Vorort, der dem Epizentrum des Bebens von Mittwochmittag am nächsten lag. Angeblich ist aber auch im Gefängnis nichts passiert.
Erschwerend für die IstanbulerInnen kommt hinzu, dass gerade im Moment noch einmal eine Kaltfront über die westliche Türkei hinweg zieht und Regen und Temperaturen weit unter zehn Grad gebracht hat. Nicht gerade motivierend, um seinen Lebensmittelpunkt in den Park zu verlegen. Bleiben oder gehen ist deshalb die Frage, die die Menschen am derzeit meisten beschäftigt.
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