Erdbeben in Syrien und in der Türkei: Helfer unterbrechen Einsatz
Rettungskräfte sprechen von „tumultartigen Szenen“. Grund sei die schwierige Versorgungslage. Bislang hat die Katastrophe mehr als 24.200 Tote gefordert.
Zu den Schüssen soll es in Zusammenhang mit Plünderungen gekommen sein, hieß es. Näheres war zunächst nicht bekannt. Die Provinz Hatay gehört in der Türkei zu den am stärksten von dem Erdbeben betroffenen Gebieten. In der 120.000-Einwohner-Stadt Kırıkhan sind fast alle Gebäude vom Erdbeben beschädigt, viele davon völlig zerstört. Fünf Tage nach dem Beben gibt es hier kaum noch Hoffnung, Lebende zu retten.
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„Es ist festzustellen, dass die Hoffnung langsam der Wut weicht“, sagte ISAR-Teamleiter Bayer. Noch am Freitag hatten ISAR und THW eine 40-jährige Frau lebendig aus den Trümmern befreit. Sie starb in der Nacht zu Samstag im Krankenhaus Adana an den Folgen ihrer Verletzungen.
Fast 1900 Nachbeben
Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat es bis Samstagmorgen 1891 Nachbeben in der Region gegeben. Das teilte die türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad mit.
Bislang hat die Katastrophe mehr als 24.200 Menschenleben gefordert. Allein in der Türkei sind mindestens 20.665 Tote zu beklagen, in Syrien mehr als 3553. Fast 85.000 Menschen wurden zudem in beiden Ländern verletzt. Millionen sind obdachlos.
Retter finden in der Türkei weitere Überlebende
Retter haben in der Türkei mehr als fünf Tage nach dem Erdbeben fünf Menschen aus den Trümmern gerettet. Das Team befreite am Samstag in Nurda zunächst eine Mutter und ihre Tochter, wie der Sender Habertürk berichtete. Später erreichten sie den Vater, der aber darauf bestand, zuerst müssten eine weitere Tochter und sein Sohn in Sicherheit gebracht werden. Als schließlich auch der Vater 129 Stunden nach dem Beben gerettet war, jubelten die Rettungskräfte „Gott ist groß“ und brachten den Mann in einen Krankenwagen.
Am Morgen waren bereits vier weitere Überlebende gerettet worden, unter ihnen ein 16-Jähriger. Er wurde 119 Stunden nach dem Beben im türkischen Kahramanmaras aus den Überresten eines Hauses befreit, wie der Fernsehsender NTV berichtete. Mitglieder des türkisch-kirgisischen Rettungstruppe fielen sich ebenso wie Verwandte des Jugendlichen in die Arme. „Er ist raus Bruder, er ist raus. Er ist hier“, rief einer von ihnen.
Drei Stunden zuvor war eine 70-Jährige lebend befreit worden. In Antakya wurde ein 36 Jahre alter Mann aus einem eingestürzten Gebäude gezogen.
Doch die Rettungseinsätze endeten nicht überall glücklich. In der Provinz Hatay fanden Retter am frühen Morgen zwar eine 13-Jährige, wie die Zeitung Hürriyet berichtete. Sie intubierten sie, doch das Mädchen starb, bevor Mediziner ihr ein Körperteil amputieren konnten, das noch zwischen den Trümmern feststeckte.
Eine Frau, die ein deutsches Rettungsteam nach Tagen im türkischen Erdbebengebiet aus den Trümmern bergen konnte, ist in der Nacht zum Samstag in einem Krankenhaus gestorben. Wie die Hilfsorganisation ISAR Germany mitteilte, berichteten die Angehörigen der 40-Jährigen namens Zeynep den Rettungskräften über ihren Tod.
Türkei öffnet Grenzübergang zu Armenien trotz Konflikts
Zur besseren Versorgung der Überlebenden nach der Erdbebenkatastrophe öffnet die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien – trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Samstag berichtete, passierten fünf Lastwagen mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen. „Lassen Sie uns etwas Gutes aus dieser großen Katastrophe herausholen. Solidarität rettet Leben!“, twitterte der türkisch-armenische Politiker Garo Paylan.
Die Landgrenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Eriwan ist sowohl aus historischen Gründen als auch wegen des Konflikts um die Gebirgsregion Berg-Karabach schwer belastet. Die beiden Nachbarn unterhalten aber seit Ende 2021 wieder diplomatische Kontakte.
Sicherheitsrisiken: Österreichs Militär unterbricht Erdbebenhilfe
Das österreichische Militär hat seine Rettungsarbeiten in der Türkei wegen Sicherheitsrisiken vorerst eingestellt. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis vom österreichischen Bundesheer der Nachrichtenagentur APA am Samstag. „Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko.“
Die 82 Soldatinnen und Soldaten der Katastrophenhilfseinheit seien seit Dienstag in der türkischen Provinz Hatay. Sie blieben auch vor Ort und stünden für weitere Einsätze bereit. „Es gab keinen Angriff auf uns Österreicher. Es geht uns allen gut“, sagte Kugelweis. „Wir würden gerne weiterhelfen, aber die Umstände sind, wie sie sind.“
WHO: Syrien-Erdbebenhilfe muss dringend ausgeweitet werden
Die Hilfe für Erdbebenopfer in Syrien muss deutlich ausgeweitet werden, fordert die Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Wir müssen mit größerer Dringlichkeit und in größerem Umfang handeln und uns besser organisieren“, sagte Richard Brennan, WHO-Nothilfekoordinator für die Region Östliches Mittelmeer am Samstag in Aleppo. Die Toten- und Verletztenzahlen seien immens, was aber oft vernachlässigt werde, seien die vielen Obdachlosen.
Allein in Aleppo im von der Regierung kontrollierten Teil Nordwestsyriens haben nach ersten Schätzungen rund 200.000 Menschen das Dach über dem Kopf verloren, in der Hafenstadt Latakia weitere 140.000, sagte die WHO-Vertreterin in Syrien, Iman Shankiti.
„Wenn wir die Mittel bekommen, können wir die Hilfe schnell ausweiten“, sagte Brennan. „Offen gesagt ist Syrien seit vielen Jahren grob vernachlässigt worden.“ Der Bedarf für humanitäre Hilfe in Syrien sei im vergangenen Jahr noch nicht einmal zur Hälfte gedeckt worden. Das Land erlebt seit zwölf Jahren einen Bürgerkrieg und die Regierung von Präsident Baschar al-Assad ist unter anderem wegen Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt.
Auch der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, ist am Samstag in Aleppo eingetroffen. Er will zusammen mit dem syrischen Gesundheitsminister und dem Gouverneur von Aleppo mehrere Krankenhäuser und Unterkünfte besichtigen, berichtete die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana.
In Aleppo kämpfen die Menschen mit Trauer und Kälte
In der syrischen Stadt Aleppo suchen die Menschen nach den zerstörerischen Erdbeben Schutz vor der Kälte. „Wir bleiben über Nacht auf diesem Bürgersteig und zünden Feuerholz an“, sagte Abdu al-Sus der Deutschen Presse-Agentur. Er hat aus Stoff ein improvisiertes Zelt für seine Frau und fünf Kinder gebaut. Auch etliche andere Familien übernachten bei eisigen Temperaturen auf der Straße oder in Autos im besonders betroffenen Osten der Stadt. Etliche warten darauf, dass die Behörden untersuchen, ob ihre beschädigten Häuser noch zu bewohnen sind.
Al-Sus berichtete: „Wir und mehrere Bewohner haben unser Haus nach dem ersten Erdbeben verlassen, einige andere sind nicht gegangen. Nach ein paar Minuten ist das Gebäude vor unseren Augen eingestürzt.“ Auch Ahmed Muharram hat Ähnliches erlebt. Lediglich seine eigene Familie habe sich vor dem Einsturz aus ihrem Wohnhaus retten können. 63 seiner Nachbarn seien getötet worden, darunter auch Kinder. Sieben hätten gerettet werden können. „Ich habe 15 Jahre in diesem Gebäude gewohnt, und wir waren alle wie eine Familie.“ Nun habe er die meisten von ihnen verloren, sagte er den Tränen nahe.
Viele Menschen in Aleppo sind nach den schweren Beben auch in Moscheen und Schulen untergekommen. Behörden zufolge mussten in der Stadt Zehntausende ihre Häuser verlassen. Laut UN wurde in der Stadt jedes dritte Haus durch die Erdbeben zerstört. Aleppo steht unter Kontrolle der Regierungstruppen von Machthaber Baschar al-Assad. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass bis zu 5,3 Millionen Menschen durch das Beben in Syrien obdachlos geworden sind.
🐾 Wissenschaftler über Hilfe nach Erdbeben: „Europa muss sehr vorsichtig sein“
Syrien fordert Nothilfe nach dem Beben. Ginge der Westen darauf ein, würde er das mörderische Regime legitimieren, warnt der Konfliktforscher André Bank im Interview mit taz-Redakteur Jannis Hagmann.
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