Entschädigung für unschuldig Inhaftierte: Der Wert der Freiheit
Der Bundesrat verabschiedet ein Gesetz, das für unschuldig Inhaftierte eine höhere Haftentschädigung festschreibt. Doch auch 25 Euro pro Hafttag reichen hinten und vorne nicht.
"Am Anfang, da hatte ich nicht einmal ein Bett, ich habe auf dem Boden geschlafen", sagt Monika de Montgazon und zeigt auf die kleine abgetrennte Nische ihrer Anderthalbzimmerwohnung. Am Anfang, das waren die Tage nach ihrer Haftentlassung. Über zwei Jahre hat die 53-jährige Berlinerin unschuldig im Gefängnis gesessen. Als sie rauskommt, haben ihr Leben vorher und hinterher nicht mehr viel miteinander zu tun.
Die Geschichte beginnt 2003. Monika de Montgazon, die erst einige Monate zuvor in das Haus ihres Vaters gezogen war, um ihn zu pflegen, wacht plötzlich nachts auf. Die Wohnung steht in Flammen. Sie und ihr Freund können sich retten, ihr bettlägeriger Vater kommt im Feuer um. Für die Polizei ist die Sache klar: Monika de Montgazon soll mit Brandbeschleuniger am Werk gewesen sein. "Das war wie ein Hammer vor den Kopf, ich konnte das nicht glauben und dachte, das klärt sich schnell auf." Doch daraus wird nichts, das LKA bleibt bei seiner Analyse. Monika de Montgazon verschwindet in Untersuchungshaft. Aus Tagen werden Wochen und Monate. Rund anderthalb Jahre später verurteilt man sie zu lebenslänglich - unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Dass sie wieder rauskommt, verdankt sie vielen Zufällen.
"Mein Leben ist im Prinzip versaut", sagt sie, "na ja, vielleicht nicht versaut, aber doch so ähnlich." Die korpulente 53-jährige sitzt auf dem Sofa, umgeben von Tischen und Schränken, die viel Nippes beherbergen, und steckt sich noch eine Zigarette an. Sie raucht zu viel, seitdem das alles passiert ist. Sie hat zu viel Zeit. Ihren Job war sie mit der Inhaftierung los. Über 30 Jahre arbeitete sie Vollzeit als Arzthelferin. Auch Auto und Wohnung waren nicht zu halten. Jetzt lebt sie die meiste Zeit von Hartz IV und macht sich keine großen Illusionen, in ihrem Alter noch einmal in den erlernten Beruf zurückzufinden. Im November 2008, sechs Monate nach ihrem Freispruch, sind dann 9.779 Euro auf ihrem Konto.
Es ist die Wiedergutmachung für den immateriellen Schaden, den sie durch die Haft erlitten hat. 11 Euro für jeden der 889 Tage. "Das war der nächste Schlag ins Gesicht", erzählt sie, "der Betrag ist ein Witz, was soll man damit schon anfangen? Bei dem, was man verloren hat. Auch 25 Euro pro Tag sind nicht genug."
Am Freitag verabschiedet der Bundesrat ein Gesetz, nachdem künftig 25 Euro immaterielle Haftentschädigung pro Hafttag festgeschrieben sind. Es greift im Falle eines Freispruchs oder bei Einstellung des Verfahrens und regelt auch den Ersatz von materiellen Schäden. Doch in der Praxis gibt es Probleme: Von der materiellen Entschädigung hat Monika de Montgazon bis heute nichts gesehen, "schließlich muss ich dafür akribisch nachweisen, dass ich auch ohne Haft nicht gekündigt worden wäre".
"Unglaublich enervierend" sei das für Menschen, die gerade aus der Haft kämen und entwurzelt seien, weiß Ulrich Schellenberg vom Deutschen Anwaltverein (DAV). Er fordert eine Umkehr der Beweislast. "Es gibt gute Gründe dafür, dass der, der sie zu Unrecht ins Gefängnis gebracht hat, auch beweisen muss, dass der Schaden auch im Normalfall eingetreten wäre." Geht es um die Erhöhung der Haftentschädigungspauschale, kann er sich immer noch in Rage reden. Der Tagessatz von 25 Euro sei völlig unzureichend. "Den Schaden können sie sowieso nicht gutmachen, aber nur eine angemessene Entschädigung erkennt das erlittene Unrecht an und kann als Anschubfinanzierung dienen, um das Leben wieder in den Griff zu bekommen."
Schellenberg, der DAV und der Berliner Anwaltverein haben maßgeblich dafür gesorgt, dass das Thema Haftentschädigung überhaupt auf die politische Agenda kommt. Als der Anwalt vom Fall de Montgazon hört, beginnt er Bücher zu wälzen. Er stellte fest, dass in Deutschland die Entschädigungspauschale seit mehr als 20 Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Lediglich bei der Euroumstellung 2001 gab es eine Erhöhung um 77 Cent. "Entgangene Urlaubsfreuden sind in Deutschland mehr wert als entgangene Freiheitsfreuden", kommentiert Schellenberg. Betrogene Urlauber erhielten im Schnitt zwischen 50 und 70 Euro Entschädigung pro Tag, wenn der Reiseveranstalter nicht hält, was er versprochen hat. "Aber wenn es um die eigenen Opfer geht, schaut der Rechtsstaat beschämt weg."
Statt der 25-Euro-Regelung, die in Parlament und Bundesrat von CDU/CSU und SPD getragen wird, fordert Schellenberg, einen Anspruch auf individuell angemessene Haftentschädigung im Gesetzbuch zu verankern. Dann könnten die Gerichte von Fall zu Fall entscheiden und der Staat nicht mehr seinen eigenen Tarif festlegen.
Die Österreicher machen das so. Dort hat sich die Verwaltungspraxis eingebürgert, im Schnitt 100 Euro pro Hafttag zu zahlen. Überhaupt das Ausland: Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern bildet Deutschland selbst mit der 25-Euro-Regelung immer noch das Schlusslicht. In Luxemburg werden zwischen 25 und 200 Euro pro Tag gezahlt, in den Niederlanden zwischen 70 und 95 und in Spanien kann der Tagessatz bei längerer Haft bis auf 253 Euro pro Tag steigen.
Auch für die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD), wie auch für die Grünen, die Linke und die FDP, sind 25 Euro nicht genug. Mit ihrer Forderung, mindestens 100 Euro pro Tag zu zahlen, stand von der Aue in der Justizministerkonferenz im Herbst 2008 jedoch allein auf weiter Flur. Sie will über die Bundestagswahlen hinaus am Thema dranbleiben. Und findet es abwegig, dass Gegner einer höheren Entschädigungssumme mit Haushaltsnöten argumentieren. "Ich kann doch Fehler, die ich begangen habe, nicht nach Kassenlage ausgleichen", sagt sie.
Die Kassenlage dürfte sich auch mit der neuen Regelung nicht dramatisch verschlechtern. 2007 leisteten alle Bundesländer (ohne Bayern und Thüringen) Entschädigungen in Höhe von 756.559 Euro. Wie viele Justizopfer es jedes Jahr in Deutschland gibt und wie lange jedes dieser Opfer im Gefängnis verschwindet, darüber wird keine Statistik geführt. "Auch das sagt viel über den Umgang mit diesem Thema aus", kritisiert Schellenberg. Er fordert, dass der Staat neben der finanziellen Entschädigung Wiedereingliederungshilfe für Justizopfer zu leisten habe - so wie er es zum Ende oder nach der Haftzeit ja auch für rechtmäßig verurteilte Straftäter tue.
Monika de Montgazon musste sich allein durchschlagen. Dass sie überhaupt draußen ist, verdankt sie etlichen Zufällen: In ihrem ersten Prozess saß ein Mann, der in einem ähnlich gelagerten Fall aufgrund eines falschen LKA-Gutachtens verurteilt wurde und ihr riet, unabhängige und renommierte Brandgutachter zu engagieren. Die konnten nur zum Zug kommen, weil die Wohnung noch nicht renoviert worden war. Doch beim ersten Prozess zeigt sich der Richter davon unbeeindruckt. Erst viel später erfährt Monika de Montgazon von ihrer Schwester, dass der Anwalt der Familie schon Wochen vor dem Prozess aus einer Unterredung mit Richter und Staatsanwalt nur berichten kann: "Sie ist schon verurteilt." Dass niemand an der Wahrheitsfindung interessiert war, empört sie bis heute: "Ein Menschenleben ist nichts wert."
Doch zum Glück ist da ihr Schwager Rudolf Jursic. Der Maschinenbauingenieur kniet sich in den Fall rein, liest sich in tausenden Stunden juristisches Fachwissen und Details über Brandentstehung an. "Ihm verdanke ich meine Freiheit", sagt Monika de Montgazon. Sie gehen in Revision. Knapp ein Jahr nach ihrer Verurteilung wird das Urteil aufgehoben und an eine neue Kammer verwiesen. Der Richter habe sich ungenügend mit den unabhängigen Brandgutachten beschäftigt, befindet der BGH.
Am 15. März 2006 wird Monika de Montgazon ohne Auflagen aus der Haft entlassen, doch es dauert noch einmal mehr als zwei Jahre, bis sie endgültig freigesprochen wird. Für den zweiten Prozess reichen zwei Tage aus: Eine BKA-Brandsachverständige bestätigt die Befunde der unabhängigen Brandgutachter und de Montgazons Unschuld, die LKA-Gutachten sind schlichtweg falsch.
Seitdem versuchen Monika de Montgazon und ihr Schwager Menschen in ähnlichen Situationen zu helfen. Auf einer Webseite informieren sie über die kritikwürdige Arbeit des Kompetenzzentrum Kriminaltechnik des LKA. Sie besuchen Prozesse und geben Tipps. Wie sie die ganze Geschichte bis heute weggesteckt hat? "Wenn ich von ähnlichen Fällen lese, kann ich nicht mehr aufhören zu heulen. Und direkt nach meiner Haftentlassung habe ich mich nur verkrochen." Sie denkt kurz nach und lacht, richtet sich selbst auf. "Zum Glück haben immer alle Freunde und Verwandte zu mir gehalten, ich bin ein optimistischer Mensch."
In einem Beschwerdebrief über das LKA, den sie einst an Berlins Innensenator Ehrhart Körting schrieb, bringt sie die erlittene Ohnmacht auf den Punkt: "Sie sollen es verstehen, ein kleiner Menschen kann sehr schnell, einfach und effektiv vernichtet werden." Was sind da schon 25 Euro für jeden Tag entgangener Freiheit?
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