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EntführungsdramaHalblegales Doppelleben

Kommentar von Diedrich Diederichsen

Der italienische Regisseur Marco Bellocchios versucht sich am Mythos des bewaffneten Kampfes. Sein Film "Buongiorno, notte" deckt unauflösliche Widersprüche in der Roten Brigade auf.

Zusammengelegte Socken - Spuren der Entführerin Chiara Bild: Kairos Film

G utes altes RAF-Revival! Ohne das zähe Interesse an den 70ern und ihren bewaffneten Kämpfern wäre auch Marco Bellocchios "Buongiorno, notte" trotz aller Begeisterung beim Venedig-Festival von 2003 nie in unsere Kinos gekommen. Ein Kommando der Roten Brigaden entführt 1978 einen der beiden Architekten des sogenannten Historischen Kompromisses zwischen Democrazia Cristiana und Eurokommunisten, den Christdemokraten Aldo Moro. Anders als die RAF arbeiteten die Brigate Rosse mit semilegalen Unterstützern. Aus der Perspektive von Chiara, einer solchen Unterstützerin (Maya Sansa), die tagsüber in einer Bibliothek arbeitet und die Außenwelt beobachtet, wird die Entführung und Ermordung Moros erzählt. Als Grundlage diente dem Film der Bericht von Anna Laura Braghetti, die an der Entführung Moros beteiligt war.

Chiara ist diejenige, die alle Dimensionen der Tat im Auge hat: den eingesperrten, melancholischen Moro, die verbohrten und die weniger dogmatischen unter seinen Entführern, eine neofaschistisch aufgeputschte Bevölkerung und die entsetzten Exsympathisanten, die kein Verständnis mehr haben, aber auch die politische Romantik der Graffiti der unverdrossenen Unterstützer. Ihr geht die Widerstandskämpfertradition ihrer Familie durch den Kopf. Dieser Mut scheint einerseits für eine Fortsetzung durch die als Vertreter des Proletariats agierenden Brigaden zu sprechen, andererseits erscheint ihr Moro nun gerade als das Opfer einer anonymen, gnadenlosen Macht - genau wie die antifaschistischen Partisanen. Sie liest ein Buch mit Briefen, die Widerstandskämpfer vor ihrer Hinrichtung an ihre Familien geschrieben haben, während Moro genau dasselbe tut: Briefe an die zukünftigen Hinterbliebenen zu schreiben.

All dies wird ernst, aber mit leichter Hand erzählt. Die politischen und historischen Kategorien, die sich hier kreuzen und verwirren, müssen nicht groß entwickelt werden, sie werden als allen Zuschauern hinlänglich bekannt vorausgesetzt: Faschismus, Kommunismus, Bourgeoisie, Proletariat, Widerstand, Geiselerschießung. Die Gewissensqualen der Hauptfigur fließen unmoderiert und leicht verständlich. Sie sind keine Reflexionen, sondern Gefühle. Aber wie alle Gefühle basieren sie auf etwas, was irgendwann mal gedacht wurde und sich wie "verstanden" angefühlt hat. Die spezifisch italienische Rolle der Religion wird als Grundierung dieser präpolitischen Träume kenntlich. Die sanften Bilder von frommen Witwen und Friedhöfen werden indes durch groteske Fernsehzitate dementiert. Darauf zu sehen ist ein extrem wackliger Pillen-Paul VI., wie er bei Moros Trauerfeier auf einer Sänfte durch die Reihen der gesamten Polit-Elite getragen wird. Zuvor hat er einer - dem Film zufolge möglichen - Verhandlung zwischen Brigaden und Staat eine Absage erteilt.

Ein großes Motiv ist die Massenkommunikation und ihre seltsam verheerende Wirkung auf das Vertrauen. Dass der lügende Politiker auch ein Effekt der Tatsache ist, dass er immerzu ins Fernsehen an Einzelne gerichtet wie an für ihn Sichtbare redet, ohne die Einzelnen sehen, geschweige denn kennen zu können, wird offenbar, wenn ich als Terrorist und "unbekannter Täter" dann plötzlich ganz persönlich gemeint bin. Der wie bei Fassbinders "Dritter Generation" ständig eingeschaltete Fernseher sendet ohne Unterlass mich betreffende Rede und verbreitet die Freuden einer Paranoia, die diesmal am Ende recht behält. Wenigstens das sprachpragmatische Problem der Massenmedien, dass Politiker und andere Fernsehpersonen immer nur "verrückte Geräusche" (Lou Reed) machen, wurde durch die Entführung beseitigt, wenn auch natürlich nicht die politische Asymmetrie und ihre Gründe.

Doch auch der Gefangene dringt mit seinen Kommunikationsversuchen nicht durch: Beim Versuch, dem Papst zu schreiben, bittet Moro seine Entführer um Formulierungshilfe. Als er seinen Entwurf zu Ende vorgelesen hat, muss Chiara weinen - die nicht gemeint war. Der Papst und die Parteifreunde von der DC haben ihn hingegen kalt lächelnd geopfert, wie man heute weiß. Moro versucht auch dies - wiederum vergeblich - seinen Wärtern zu erklären: "Ich bin doch ihr ideales Opfer. Sie werden mich benutzen, um euch zu liquidieren."

Wo Worte versagen, stellt Musik den Zusammenhang her: Als in Antonionis "Zabriskie Point" (1969) die Welt aus Logos und Packungsdesign zu einer Orgelkaskade in Slow Motion dem Betrachter buchstäblich um die Ohren flog, kam die Musik von Pink Floyd. 1978/2003 ist es immer noch Pink Floyd, aber schon der süßsaure Kitsch von "Dark Side of the Moon", ein ästhetischer Niedergang der psychedelischen Musik, der der politischen Unsicherheit und ihren Gewaltexzessen, ihren Ritualen ebenso entspricht wie der Folgenlosigkeit des Zweifels. Bellochio sympathisiert zwar mit dieser Musik, sie artikuliert authentisch die Konfusion seiner Charaktere. Aber eigentlich artikuliert sie nicht mehr, sie ist längst selbst ein zu eskapistischer Ideologie erstarrter Kitsch. Sieht man zu dieser Musik erst die zweifelnd-bewegte Chiara, dann den zur Hinrichtung abgeführten Moro, wendet sie sich gegen ihre eigene Ideologie und unterstützt die Intentionen des Films, die Seelen der Beteiligten in ihrem unauflöslichen Widerspruch zwischen antifaschistischen Intentionen und der faschistoiden Realität eines Geiselmordes zu zeigen. "Dark Side of the Moon" verhält sich damit zum Irrtum des linken Terrorismus ungefähr so wie die frühen Pink Floyd zur Wahrheit marxistischer Warenkritik. Und es ist dieselbe Band - so wie es auch im analogen Fall oft dieselben Leute waren.

Unsympathisch ist nur, dass das Insistieren eines Arbeitskollegen Chiaras, dass sie doch eine Frau und schön sei und endlich diesen Teil ihrer Person nicht mehr leugnen möge, nicht nur unwidersprochen bleibt. In ihrer Weiblichkeit findet der Film allen Ernstes den Grund für ihre besondere Menschlichkeit, die anders fühlt als die verbohrten Genossen. Und auch Moro bemerkt zart, dass wohl eine Frau unter den Entführern sein müsse, seine Strümpfe seien immer so schön zusammengelegt. Dabei ist es, wie andere Teile des Filmes zeigen, die einmalige Position des semilegalen Doppellebens, die sie die Blindheit derer durchschauen lässt, die sich aus dem Untergrund nicht mehr hervorwagen können.

"Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro". Regie: Marco Bellocchio. Mit Maya Sansa, Luigi Lo Cascio u. a. Italien 2003, 106 Min.

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