Energiewende in Geesthacht: Vom Atom-Standort zur Öko-Modellstadt
Geesthacht will sich von seiner nuklearen Vergangenheit mit dem AKW Krümmel verabschieden und wird ökologische Modellstadt. Zudem richtet Geesthacht die erste Energiewendemesse im Norden aus.
Wenn es nach William Boehart ginge, gäbe es die vier großen Energiekonzerne in Deutschland gar nicht mehr. „Die müssen weg“, sagt der 65-Jährige Archivar. Vattenfall und Co. sind unerwünscht in Geesthacht auf der ersten Energiewendemesse in Norddeutschland. „Die haben wir nicht eingeladen“, sagt Boehart, Sprecher des Forums Kultur und Umwelt, das die Messe organisiert hat.
Drei große Messezelte und Dutzende Stände stehen auf dem 8.000 Quadratmeter großen Gelände der ehemaligen Menzer-Werft auf einer Halbinsel direkt an der Elbe. 48 Aussteller zeigten hier rund 3.000 Besuchern von Freitag bis Sonntag, wie die Energiewende funktionieren könnte. Wärmedämmung für Häuser und Wohnungen, maßgeschneiderte Photovoltaikdächer, Blockheizkraftwerke und Windkraftanlagen für das Eigenheim sind im Angebot.
„Wir wollen den Verbrauchern konkret zeigen, dass sie auch Produzenten sein können“, sagt Boehart. Die Zukunft bestehe „aus dezentralen Lösungen“, großindustrielle fossile Kraftwerke „waren und sind das Problem“. Eines davon und zugleich das größte in der Region ist vom Ufer aus zu sehen: das abgeschaltete Atomkraftwerk Krümmel, knapp vier Kilometer elbaufwärts.
Geesthacht im Südosten Hamburgs ist mit rund 30.000 Einwohnern die elftgrößte Stadt Schleswig-Holsteins.
Energie: Geesthacht war der größte Energiestandort im Norden mit dem Atomkraftwerk Krümmel, dem vor zwei Jahren abgeschalteten Forschungsreaktor des GKSS-Helmholtz-Zentrums und dem Vattenfall-Pumpspeicherwerk oberhalb der Elbe.
Explosivität: Der schwedische Chemiker Alfred Nobel gründete 1865 "auf dem Krümmel" zunächst eine Glycerinfabrik und kurz darauf nach Patentierung eines von ihm erfundenen Sprengstoffs die erste Dynamitfabrik der Welt.
Elbe: Am Stauwehr Geesthacht endet der Tideeinfluss auf die Elbe. Vor zwei Jahren errichtete dort der Energiekonzern Vattenfall als ökologische Ausgleichsmaßnahme für das Kohlekraftwerk Moorburg die mit 550 Metern längste Fischtreppe Europas.
Vor gut einem Jahr wurde das AKW von der Bundesregierung stillgelegt. Umgehend habe der Stadtrat mit der Planung der Energiewende in Geesthacht begonnen, erzählt der parteilose Bürgermeister Volker Manow. „Eigentlich war niemand dagegen“, sagt er noch jetzt mit leichter Verwunderung. Außer Jörg Kuhnert. Doch der städtische CDU-Chef, der an der Atomkraft festhalten wollte, wurde im Mai 2011 von seinen eigenen Leuten abgesetzt.
Obwohl die Energiewende zunächst mal teuer wird. Rund neun Millionen Euro Steuern jährlich führte Krümmel an die Stadt ab, fast ein Fünftel des Jahreshaushalts von 50 Millionen Euro. Bis 2007 war das, denn seit der Abschaltung nach einem Trafobrand vor fünf Jahren hat Krümmel keinen Strom mehr produziert und keine Gewinne versteuert. Die Rücklagen Geesthachts schmolzen von 70 Millionen Euro auf nur noch 15 Millionen. „Und die sind auch bald alle“, sagt Bürgermeister Volker Manow. „Wir mussten was tun.“
Bis 2030 soll die 30.000-Einwohner-Stadt vollständig auf selbst produzierten Ökostrom umgestiegen sein, lautet das Ziel. Dafür soll auf der Messe eine Energie-Genossenschaft der Geesthachter Einwohner gegründet werden. Die Idee ist, auf bis zu 164 Dächern von Schulen und öffentlichen Gebäuden, die jüngst für 28 Millionen Euro aus den Rücklagen sanierten worden waren, Photovoltaikanlagen zu errichten. „Dann hätten wir das Geld doppelt gut ausgegeben“, sagt Bürgermeister Manow.
Das alles passiert unter den Augen der Bolls, Bettina und Gerhard. Im Juni vorigen Jahres, mit dem Stilllegungsbeschluss für Krümmel, beendeten sie ihre Mahnwachen in der Innenstadt – nach 30 Jahren Widerstand gegen die Atomkraft. Gerhard Boll, pensionierter Lehrer, leitet jetzt den Energieausschuss der Stadt, Bettina Boll steht auf dem Messegelände am Stand von BUND und Elterninitiative gegen Atomkraft, und informiert über Öko-Strom und Öko-Essen. Sie will den Atomausstieg erst glauben, wenn der Meiler Krümmel tatsächlich abgebaut wird. „So lange“, sagt die 58-Jährige, „bleibe ich wachsam.“
Wolf-Rüdiger Busch denkt bereits weiter: „Wie baut man ein AKW ab?“, fragt der Leiter des städtischen Museums. Ihm schwebt vor, den Rückbau zu dokumentieren und der Nachwelt zu zeigen, „wie Fehler korrigiert werden können“. In fünf Jahren geht Busch in Pension. Bis dahin, so seine Hoffnung, ist das AKW verschwunden und seine Ausstellung über das Ergrünen von Geesthacht fertig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter