Ende der Kolumne Gott und die Welt: Zeit, zu kämpfen
Zehn Jahre schreiben für die taz: Unser Autor blickt zurück auf seine Zeit als Schöpfer der Kolumne „Gott und die Welt“.
M it diesen Zeilen ist meine etwa zehn Jahre währende Zeit als Kolumnist der taz abgelaufen – zehn Jahre, in denen ich das Privileg hatte, einmal im Monat zu „Gott und der Welt“ Stellung zu nehmen und somit die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen zu erfüllen. Dafür danke ich der taz. Oft schrieb ich – implizit oder explizit – unter Verweis auf meine Existenz als Jude in Deutschland. So befasste sich die erste Kolumne, derer ich mich erinnere, mit terroristischem Islamismus. Erinnerung erweckt Rührung, weshalb ich darum bitte, mir das folgende Pathos nachzusehen.
Oft denke ich derzeit – nach „Halle“ – an den von Pete Seeger geschriebenen, später von den „Byrds“ 1965 gecoverten Song: „To everything, turn, turn, turn, there is a season and a time and purpose under the heaven“ – Zeilen, die nichts anderes sind, als eine präzise Übersetzung der ersten Verse des dritten Kapitels des biblischen Buches „Kohelet“, der „Weisheit Salomonis“: „Für alles gibt es eine Stunde und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel.“
Die Zeilen, auf die es mir derzeit ankommt, lauten so: „[…] Zeit des Kriegs und Zeit des Friedens“ (3,8) oder in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig: „Für alles ist eine Zeit, eine Frist für alles Anliegen unter dem Himmel […] eine Frist des Kriegs und eine Frist des Friedens …“
Eine Zeit des Krieges ist aber auch immer eine Zeit zu kämpfen. Ja, jetzt gilt es zu kämpfen: gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, kurz gegen den verharmlosend „Rechtspopulismus“ genannten, auch parlamentarisch vertretenen völkischen Extremismus. Als deutscher Jude bin ich Verfassungspatriot. Ein Patriot zu sein heißt, mit Herz und Verstand für den Staat einzustehen, dessen Verfassung zu bejahen ist.
Der erste Artikel des Grundgesetzes gilt für alle
Das gilt für mich im Blick auf das deutsche Grundgesetz und seinen ersten Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde des Menschen, aller Menschen – wohlgemerkt – nicht: die Würde des Deutschen!
„Schreiben für die taz“: Die Kolumnisten Micha Brumlik und Henning Harnisch im Gespräch mit den Redakteur*innen Tania Martini und Andreas Fanizadeh, taz-Kantine, Friedrichstraße 21, 10969 Berlin am 11.12.2019 um 19 Uhr, Eintritt frei.
Es ist nicht zuletzt eine jüdische Erfahrung, die sich darin niederschlägt: In des italienisch-jüdischen Chemikers Primo Levi nüchternem Bericht über seine Haft in Auschwitz wird der Erfahrung absoluter Entwürdigung unüberbietbar Rechnung getragen; vor der Kulisse von Auschwitz gewinnt die Rede von der „Würde des Menschen“ eine gebieterische Kraft.
„Mensch ist“, so notiert Levi für den 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als … der grausamste Sadist.“
Unter diesen Bedingungen schwindet die Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“
Zeit zu kämpfen und zu bleiben
Eine Zeit zu kämpfen … – anders als andere jüdische Intellektuelle, wie Richard Schneider oder Michael Brenner, denke ich nach dem mörderischen Anschlag von Halle überhaupt nicht daran, die Koffer, wenn schon nicht zu packen, so doch wenigstens vom Dachboden zu holen – im Gegenteil: „Zeit zu kämpfen …“ und daher: zu bleiben!
Als Bürger, als Citoyen jenes Staates, dem es in seiner Verfassung um die Würde des Menschen geht, will ich daher gerne dem folgen, was Bertolt Brecht in seiner „Kinderhymne“ aus dem Jahr 1953 so unübertroffen ausgedrückt hat: „Und weil wir dies Land verbessern, / lieben und beschirmen wir’s. / Und das liebste mag’s uns scheinen / so wie andern Völkern ihrs.“
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