Emanuelle Pagano: "Der Tag war blau": Ein Hochplateau voller Verletzungen
Die französische Schriftstellerin Emmanuelle Pagano beschreibt, wie aus einem Lebensgeheimnis intensive Körper- und Weltwahrnehmungen folgen können.
Fast scheint es, als funktioniere die französische Provinzlandschaft in Emmanuelle Paganos Roman "Der Tag war blau" wie eine Art Skizzenblock, auf dessen Seiten immer wieder neue Facetten einer Seelenlandschaft entworfen werden: In der namenlosen Landschaft dort in den Bergen, die entfernt an die Hochplateaus der Ardèche oder des Vercors erinnern mag, wird das komplexe Innenleben von Paganos Protagonistin Adèle veräußerlicht. Hier bröckeln und erodieren Felsabhänge, so wie dort Gefühle; hier verschieben sich die Grenzen zwischen befestigter Straße und ungesichertem Abhang, so wie dort die Schranken zwischen damals und heute; hier verwischen die Konturen der Landschaft unter der wenig durchlässigen Schneedecke, so wie dort diejenigen der Erinnerung unter dem beruhigenden Weiß des Alltags.
Am 1. September fängt nach den Ferienmonaten für die Kinder die Schule wieder an, und für Adèle ihre Arbeit als Schulbusfahrerin. Von jetzt an beginnt sie wieder jeden Tag früh ihre Runde zu den isoliert daliegenden Höfen der Umgebung, sammelt die Kinder an den Straßenkreuzungen ein. Jeden Nachmittag bringt sie sie auch wieder nach Hause - über die kahle Hochebene und durch die Nebelwälder: "Es gibt Tage, Morgen oder Nächte, da das Wetter in der Landschaft, da die Luft in den Bäumen haargenau, auf beinahe triviale Weise, mit dem Wetter in unserem Körper, mit der Luft in unserer Laune in Einklang steht."
Emmanuelle Paganos Adèle lebt allein und zurückgezogen. Die Leute aus der Gegend wissen wenig von ihr, und ihre Schulbuskinder, denen sie mit spröder Zuneigung begegnet, beißen sich oft genug die Zähne aus bei dem Versuch, etwas über Adèles Leben herauszukitzeln. Adèle macht keine großen Worte - das hat sie mit den bäuerlichen Einsiedlern aus der Gegend gemeinsam. Aber nicht nur das: Sie kennt auch deren Geschichten, sie spricht denselben Dialekt wie sie und hat die gleichen Erinnerungen. Adèle hat ihr ganzes Leben hier auf der dünnbesiedelten Hochebene verbracht, auch wenn das niemand von den anderen Bewohnern weiß.
Adèle behält ihre Geschichte für sich - aber während ihrer täglichen Busfahrten denkt sie zurück an alle Stationen ihres Lebens, und diese mit den Landschaftsbeschreibungen verwobenen Erinnerungen sind es, von denen Emmanuelle Pagano in "Der Tag war blau" erzählt. Zwei Ereignisse, die wachsende Liebe zu dem Jäger Tony und das Wiedersehen mit ihrem Bruder nach mehr als zehn Jahren ohne Kontakt, setzen bei der Protagonistin einen Erinnerungsprozess in Gang, der in seiner Wortlosigkeit nur umso intensiver ist. Adèle denkt zurück - an die Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof hier in der Gegend, an den frühen Tod der Mutter und das Hilfloswerden des Vaters, an die Internatsjahre und die Zeit, die sie zusammen mit ihrem Bruder in der Stadt gelebt hat, an den Bruch zwischen den Geschwistern und an den Auslöser dafür. An die operative Geschlechtsumwandlung nämlich, die aus dem Jungen, der sie früher war, die Frau gemacht hat, die sie jetzt ist.
Die Schriftstellerin Emmanuelle Pagano lebt mit ihrer Familie in der Ardèche, um dort, wie es auf ihrer Homepage heißt, die unterschiedlichen Strukturen des Schnees, die verschiedenen Grautöne des Nebels und die jeweiligen Dichtheitsgrade des Windes miteinander zu vergleichen - so, wie ihre Protagonistin Adèle das auch tut. Vor Jahren hat Pagano eine Dissertation über das "Kino der Vernarbungen" abgebrochen, um sich dem Schreiben von Romanen zu widmen, in denen sie stattdessen alte, vermeintlich längst vernarbte Wunden beharrlich aufkratzt und freilegt, bis das Blut fließt, ebenso unvermittelt wie erschreckend und befreiend. "Der Tag war blau" ist einer dieser bislang vier Romane; Nathalie Mälzer-Semlinger hat in ihrer Übersetzung Sorge getragen, dass sich die zahlreichen kleinen Verletzungen der Landschaft und der Seele, von denen dieser Roman erzählt, auch im Deutschen so behutsam erschließen wie im französischen Original.
Denn diese Verletzungen, von denen Emmanuelle Pagano schreibt und an die sich ihre Adèle erinnert - die müssen durchaus auch in einem ganz unmittelbar körperhaften Sinne verstanden werden. Von den ersten Zeilen des Buches an wird deutlich, dass es Pagano mit ihrer Geschichte von Adèles geschlechtlicher Identität nicht darum geht, psychologische Theorien zu untermauern oder einen politischen Diskurs über das Thema zu motivieren, sondern darum, körperlich erlebbare Befindlichkeiten und Reize in den Vordergrund zu stellen, Unbehagen, Lust, Schmerz und dergleichen mehr. Wenn der Romananfang so ein Szenario entwirft, in dem Adèle von einem Fest im Dorf flieht, um sich allein im Wald hinzuhocken und in den "würzig duftenden Humus" zu pinkeln, wenn sie danach auf einem kühlen Stein sitzend feststellt, ihr leichter Kopfschmerz tue ihr "verflucht gut", wenn die Erde sich feucht anfühlt und der Wind grün fluoreszierende Fliegen herbeiweht, dann steht jedes einzelne Detail für Adèles intensivierte Wahrnehmung nicht nur des eigenen Körpers, sondern auch all der Reize, denen dieser sich ausgesetzt sieht.
In den dichten Beschreibungen dieser Körperwahrnehmung liegt die große Stärke, aber auch der Knackpunkt des Romans: Das alles ist gut beobachtet und wunderschön beschrieben - aber aus der Intensität folgt wenig. Was bedeutet denn die Tatsache, dass Adèle ihre Geschichte beinahe bis zum Ende des Buches unter Verschluss halten zu müssen glaubt? Welche sozialen Zwänge versucht sie dadurch zu respektieren, dass sie schweigsam unter ebenfalls schweigenden Menschen lebt? Und ist die Tatsache, dass sie zuletzt gezwungenermaßen ihr Schweigen bricht, ein Hinweis darauf, dass diese bürgerlichen Konventionen dann doch hinfällig sind? Diese Fragen bleiben in "Der Tag war blau" ausgespart. Die Gelassenheit, mit der Adèle ihren Bus durch den harten Winter lenkt, macht den Roman dennoch zur einer Lektüre, die durch ihre Lebensklugheit besticht.
Emmanuelle Pagano: "Der Tag war blau". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach, Berlin 2008, 170 Seiten, 17,90 Euro
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