: Eiskalte Grenze
In Europa herrscht Entspannung. Am strategisch bedeutsamen Eismeer sind die guten Beziehungen jedoch eingefroren
STOCKHOLM taz ■ Es sind militärische Überlegungen, die im Nordpolarmeer die womöglich erfolgversprechendste Hilfe für das gesunkene U-Boot „Kursk“ verhindert haben. Moskau hat von den USA keine Rettungsgeräte angefordert. Und die USA haben sie auch nicht angeboten. Dabei hätten es die beiden US-Atom-U-Boote, die das russische Manöver eh aus nächster Nähe beobachteten, nicht weit gehabt. Doch die strategische Bedeutung des Nordmeers macht es für die USA und Russland unvorstellbar, ihre Karten aufzudecken.
In den Sechzigerjahren hatte die Sowjetunion die Flottenbasen auf der Halbinsel Kola aufgebaut, worauf die Nato mit der „neuen Marinestrategie“ reagierte: Im Falle eines militärischen Konflikts sollte die See- und Luftherrschaft im Nordmeer gewonnen werden, um die sowjetischen Atom-U-Boote auszuschalten. Der damalige US-Marineminister John Lehman formulierte es so: „Im Nordmeer können wir einen Krieg nicht gewinnen, aber verlieren.“
Eine beispiellose Rüstungsspirale drehte sich in einer der abgelegensten und am dünnsten besiedelten Gebiete Europas, bis sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion abrupt gestoppt wurde. Im Rüstungsjahrbuch SIPRI wurde das Dauerkapitel „Nordmeer“ ersetzt durch die Konfliktgebiete an Russlands Südgrenze. Nordwestrussland wurde zum Abstellplatz: für Soldaten und Kriegsmaterial, das aus der DDR und den baltischen Staaten abgezogen werden musste. Das eh schon militärisch hochgerüstete Gebiet hatte den Vorteil, geografisch außerhalb der zwischen Nato und Moskau getroffenen Abrüstungsvereinbarungen zu liegen.
Wie dünn der Boden der Zusammenarbeit war, die die Barentsseeregion seit Beginn der Neunzigerjahre offiziell geprägt hatte, machte der Nato-Krieg im Kosovo deutlich. Über Nacht kehrte am Nordmeer die Eiszeit wieder ein. Gemeinsame Militärübungen wurden abgesagt, das „rote“ Telefon zwischen den Grenzstationen in Norwegen und Russland nicht mehr benutzt. Die USA ließen ihre Bombenflugzeuge erstmals wieder über dem Polarmeer patrouillieren.
Eine sich anbahnende Normalisierung der Beziehungen an der norwegisch-russischen Grenze wurde in diesem Jahr erneut gestoppt: durch die Pläne der USA für den Bau des NMD-Raketenabwehrsystems. Denn der Kern der Militärstrategie beider Seiten hat sich in dreißig Jahren keinen Deut geändert: Den Gegner ständig beobachten, um ihn gegebenenfalls als Erster ausschalten zu können. REINHARD WOLFF
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