Einstaatenlösung für Israel und Palästina: Schönes neues Heiliges Land
Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich brächte, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein Kinderspiel.
E in Essay in der New York Times reichte aus, um Israels Printmedien mit heftigsten und kontroversen Kommentaren zu füllen, sechs davon allein in der liberalen Tageszeitung Haaretz. Autor des umstrittenen Textes ist der US-amerikanische Politologe und Publizist Peter Beinart. Der praktizierende Jude, der, als man noch reisen konnte, regelmäßig zu Gast im Heiligen Land war, nimmt Abschied von der Zweistaatenlösung. „Ich glaube nicht mehr an den jüdischen Staat“, so der Titel seiner Abhandlung. Stattdessen stellt er sich eine jüdische Heimat in einem Staat vor, in dem Gleichberechtigung für alle BürgerInnen gilt.
Mit seinem bereits im Juli erschienenen Essay, der kürzer ist als dieser Text, fordert Beinart die liberalen Zionisten auf, sich loszulösen von dem Ziel einer über die Jahre mehr und mehr zur Utopie gewordenen jüdisch-palästinensischen Trennung. „Akzeptiert das Ziel der jüdisch-palästinensischen Gleichberechtigung.“
Beinart erfindet keineswegs das Rad neu. Schon in den frühen 1980er Jahren erklärte der israelische Politologe, Autor und ehemals stellvertretende Bürgermeister Jerusalems, Meron Benvenisti, es sei „unmöglich, dieses Land zu teilen“. Es sei „fünf Minuten vor Mitternacht“, warnte er in einem 1982 von der New York Times gedruckten Interview. Mithilfe einer umfassenden Datenbank dokumentierte Benvenisti die Verbreitung israelischer Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten und kam zu dem Schluss, Israel verhalte sich einerseits „wie eine vollblütige Demokratie, aber wir haben eine Gruppe von Leibeigenen, die Araber, für die wir diese Demokratie nicht gelten lassen“. Das Ergebnis sei, wie Benvenisti in einem Interview in Haaretz 2012 erklärte, „eine Situation extremer Ungleichheit“.
Vor zwei Wochen starb der 86-Jährige am jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana, desillusioniert vom Zionismus und bis zum Ende festhaltend an der Überzeugung, dass die beiden Völker einfach lernen müssten, miteinander zu leben. Sein Tod stieß im Vergleich zum Aufruhr um Beinart auf wenig Aufmerksamkeit. Selbst Haaretz, die Zeitung, für die er regelmäßig Kolumnen verfasste, brachte keinen sehr umfassenden Nachruf auf den Mann, der in seiner Heimat ein einsamer Querdenker blieb.
Anders als Benvenisti galt Beinart bislang als überzeugter Zionist. „Ich glaube, dass das jüdische Volk, nachdem es zweitausend Jahre heimatlos war, einen eigenen Staat verdient hat, der es in seiner historischen Heimat schützt“, schrieb er in dem 2013 veröffentlichten Buch „Die amerikanischen Juden und Israel“. Sein aktuelles Essay markiert eine recht dramatische Kehrtwende. Beinart zieht die Konsequenz aus dem mittlerweile 27 Jahre währenden, fruchtlosen Friedensprozess und – ähnlich wie Benvenisti – aus der massenhaften Ansiedlung von israelischen StaatsbürgerInnen im besetzten Palästinensergebiet.
Beifall erntet er beim Nationalen Sicherheitsberater von Ex-US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes. Beinart sei „mutig, umsichtig und in der Lage, Vorstellungen zu entwickeln“, twittert Rhodes und empfiehlt, den Essay „gründlich zu lesen“. Staranwalt und Trump-Verteidiger Alan Dershowitz hingegen wirft Beinart vor, er trete für eine „Endlösung“ ein.
Dabei könnte doch alles ganz wunderbar sein. Das alte Palästina, das Heilige Land, müsste nicht geteilt werden. Die frommen Juden und Jüdinnen könnten zum heiligen Versöhnungstag Jom Kippur nach Hebron pilgern, und umgekehrt würde die PalästinenserInnen keine Straßensperre mehr aufhalten, wenn sie ihre Verwandtschaft in Nazareth oder Jaffa besuchen wollen.
„Seit dem Wegfall der alten Grenzen brauchte man nur in ein Auto oder einen Bus der staatlichen Gesellschaft Egged zu steigen, um einen Ausflug an die Strände Tel Avivs zu machen“, schreibt der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh in seinem autobiografischen Buch „Es war einmal ein Land“. Nusseibeh, der seine Kindheit im einst von Jordanien besetzten Teil der geteilten Stadt Jerusalem verbrachte, erinnert sich gern zurück an seine erste Landung am Flughafen Ben Gurion kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, als seine über so viele Jahre geteilte Heimat endlich wiedervereint war. Über Jahrzehnte predigte Nusseibeh die Einstaatenlösung und blieb wie Benvenisti mit seiner Haltung allein. Bis heute bilden die Palästinser, die sich eine friedliche Einstaatenlösung mit gleichen Rechten für Araber und Juden vorstellen können, eine kleine Minderheit. Zu schwer fällt der Abschied vom Traum der Eigenstaatlichkeit.
Und in Israel? Da gibt es einen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der zwar die Annexion großer Teile des palästinensischen Gebiets ankündigt, sich gleichwohl hütet, das Wort „Einstaatenlösung“ laut auszusprechen. Netanjahu zielt auf das Land, nicht auf die Leute. Nicht zuletzt wäre es um die Zukunft seiner Likud-Partei schlecht bestellt, wenn die arabische Bevölkerung im Land mal eben auf die dreifache Größe anwüchse. Schließlich soll Israel jüdisch und demokratisch bleiben. Seit zehn Jahren sind Neubürger sogar gesetzlich dazu verpflichtet, einen Eid auf ihre neue „jüdische und demokratische“ Wahlheimat zu leisten. In einem Staat für beide Völker funktioniert das nicht.
Die jüdische Bevölkerung im Land hängt mehrheitlich an beiden Werten, und so stößt Beinarts Essay in Tel Aviv, Haifa und Westjerusalem auf ähnlich wenig Zuspruch wie in Ramallah oder Hebron, davon ausgehend, dass ihn auch dort jemand liest. Die Sorge um das jüdisch-demokratische Israel ist das zentrale Argument von PolitikerInnen wie Zipi Livni, einst Justizministerin und letzte Delegationschefin bei Friedensverhandlungen mit der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation), für die Zweistaatenlösung. Was weltliche, aufgeschlossene NormalbürgerInnen in dem vergleichsweise reichen Staat an der Perspektive auf nur einen Staat zusätzlich schreckt, ist das ökonomische Gefälle. Wer möchte sich schon gern zwei bis drei Millionen neue Arbeitslose ins Haus holen, noch dazu in Krisenzeiten wie diesen? Und dann ist da noch die Frage der Flüchtlinge. Hunderttausende PalästinenserInnen in libanesischen und syrischen Lagern träumen bis heute von der Rückkehr in die Heimat. Viele bewahren sorgsam die Schlüssel auf, die Oma und Opa bei sich trugen, als die israelischen SoldatInnen sie vor 70 Jahren in die Fremde trieben. Niemand soll glauben, dass die Nachfahren der Flüchtlinge mal eben auf einen Kaffee vorbeikommen, um sich die alten Häuser anzugucken, und anschließend friedlich und zufrieden auf den Dünen Südhebrons die Zelte aufzuschlagen.
Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich bringen würde, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein Kinderspiel. Die Hunderten Siedlungen und Siedlerstraßen machten aus Palästina einen Flickenteppich, sagen Zweifler. Na und? Es gibt Transitstraßen, Brücken und Tunnel. Ideen über Ideen lagen auf dem Tisch, als man in guten Zeiten des Friedensprozesses gemeinsam über Verbindungsmöglichkeiten zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland nachdachte.
Doch vor allem entscheidend ist, dass die Völker mit Ausnahme von Jerusalem und Hebron bereits physisch getrennt sind. Sie leben in verschiedenen Städten, Dörfern und Siedlungen, fahren mit unterschiedlichen öffentlichen Verkehrsmitteln, teils sogar auf verschiedenen Straßen. Letztendlich sind die beiden Gesellschaften auch in ihrer Mentalität sehr verschieden, sprechen entweder Hebräisch oder Arabisch, beten entweder in der Moschee oder in der Synagoge.
Die Flucht in die Einstaatenlösung erscheint bei den wenigen VertreterInnen in Israel und den Palästinensergebieten, denen die Idee als die einzig realistische erscheint, beinah wie ein Verzweiflungsakt. Neben der weiteren Ausbreitung der Siedlungen in seiner Heimat fürchtet der Palästinenser Hamada Jaber „den Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA)“, sei es aufgrund ökonomischer Zwänge oder infolge des internen Konflikts zwischen den führenden Parteien Fatah und Hamas. Jaber ist Vorstandsmitglied der palästinensisch-israelischen Initiative One State Foundation, der ein paar Dutzend, höchstens einige Hundert Aktivisten angehören. Es sei von „strategischer und schicksalhafter“ Bedeutung, nicht auf den Zusammenbruch der PA zu warten, sondern ihre Auflösung aktiv voranzutreiben, um neben der PLO die Ortsverwaltungen, Bezirksräte, Rathäuser und Volkskomitees an Einfluss gewinnen zu lassen. Weder von der israelischen Politik noch von internationaler Seite sei Veränderung zu erwarten, schreibt Jaber. „Der Status quo zeichnet ein Bild einer Einstaaten-Realität, in der Israel tagtäglich mehr Tatsachen zu eigenen Gunsten schafft.“ Es sei an den Palästinensern, „den Rassismus dieser sich entwickelnden De-facto-Realität“ ans Licht zu bringen und die Gründung eines demokratischen Staates zu erzwingen.
Ähnlich argumentiert Haaretz-Kolumnist Gideon Levy in seiner Antwort an Peter Beinart, obschon er zur gegensätzlichen Schlussfolgerung kommt. Beinart habe „eine Erleuchtung“ gehabt. „Die schönen Jahre des berauschenden Glaubens, es sei möglich, liberaler Jude zu sein und gleichzeitig Israel zu unterstützen, sind vorbei.“ Seit 53 Jahren bestehe nun schon ein Staat, dessen „Apartheidsregime sich mit übelerregender Geschwindigkeit tiefer und tiefer verwurzelt“. Beinart stehe stellvertretend für die amerikanischen Juden, die anfangen, „einen klaren Blick auf Israel, ihren ‚Darling‘, zu werfen“. Genau das ist der Punkt, der den Essay des US-Politologen so hohe Wellen schlagen lässt: Das beunruhigende Wegbrechen der so selbstverständlichen Rückendeckung des US-Judentums. Für die Generation Beinarts spielt der Holocaust nicht mehr dieselbe Rolle wie für die ihrer Eltern, denen das Wissen um die Existenz Israels hilft, ruhig schlafen zu können.
Die jungen US-Juden sind Ansprechpartner für die Palästinenser, um dem Unrecht ein Ende zu machen. Allerdings nicht mit einer Einstaatenlösung. „Man kann sich keine wahnhaftere Illusion vorstellen“, schreibt Gideon Levy. „Ein palästinensischer Staat wird ganz sicher kommen. Wartet nur ab. Ihr werdet schon sehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW