Eine westfälische Ikone: Das ist das Gesicht von Jesus
Das „Heilige Antlitz Christi“ aus der Berliner Gemäldegalerie soll das wahre Gesicht von Jesus zeigen. Wer davor betete, kam schneller in den Himmel.
Mysteriöse Abdrucke des Gesichts von Jesus Christus erscheinen seit dem 6. Jahrhundert in den christlichen Traditionen. Aber erst im 14. Jahrhundert wurde der Kult um Veronika und ihr Schweißtuch zum populären Phänomen in der Westkirche. Die Jesus-Porträts sind der Überlieferung nach in einem Kopierprozess entstanden, als ein Stück Tuch gegen das heilige Gesicht oder den Körper von Christus gedrückt wurde. Insgesamt gibt es fünf oder sechs dieser außergewöhnlichen Bilder. Sie gelten als acheiropoietisch, nicht von menschlicher Hand, sondern durch ein Wunder geschaffen, das Wunder der Vera Ikon, des „Wahren Bilds“.
In der Figur Veronikas sind die Fäden der unterschiedlichen Entstehungsmythen der wahren Bilder miteinander verknüpft: Der Mythos der mitfühlenden Frau, die Jesus das schwere Kreuz auf seinem Rücken tragen sah, ihm den Schweiß von der Stirn wischte und danach das Abbild Jesu auf dem Tuch vorfand, wurde mit jener Frau in Verbindung gebracht, die zwölf Jahre lang unter ständigen Menstruationsblutungen gelitten hatte (eine besonders spektakuläre männliche Fantasie), bis sie den Saum von Jesu Gewand berührte. Im apokryphen Nikodemus-Evangelium wurde sie Berenike, lateinisch Veronika, genannt.
Einer anderen Geschichte zufolge hatte Veronika ein Porträt von Jesus malen wollen, erhielt von ihm aber einen auf wundersame Weise entstandenen Abdruck seines Gesichts auf einem Stück Stoff. Mittels einer etymologischen Verdrehung wurde später der Name „Veronika“ auf „Vera Ikon“ zurückgeführt.
Lange vor der Verehrung des Schweißtuches im Westen wurde das „Christusbild von Edessa“, auch „Mandylion“ genannt, im Jahr 944 vom byzantinischen Kaiser Romanos I. als Beute nach Konstantinopel gebracht. Es wurde vielfach kopiert und in der byzantinischen Kunst zu einer populären Ikone. Der Legende nach geht das Tuch auf König Abgar von Edessa zurück, der ein Zeitgenosse Jesu war. Einer der Jünger des Gottessohns hatte dem König das Tuch mit dem Porträt gebracht und es hatte Abgar von der Lepra geheilt.
Eine auf zwei Tafeln aus Zypressenholz gemalte Kopie, die als getreue Wiedergabe des ursprünglichen Mandylions galt, wurde im Jahr 1249 aus Rom in einen Konvent nahe der nordfranzösischen Stadt Laon geschickt. Von dort gelangte sie im 18. Jahrhundert in die Kathedrale von Laon, wo sie noch heute angebetet wird. Die Reise dieser Kopie des Mandylions von Ost nach West ging der Verehrung des „Schweißtuchs der Veronika“, auch „Sudarium“ genannt, voraus. Dieses Tuch, das ebenfalls einen Abdruck des Heiligen Gesichts trägt, wird neben der Reliquie des „Wahren Kreuzes Christi“ noch heute in der Basilika St. Peter verehrt.
Ein fotografisches Bild
Das „Schweißtuch der Veronika“ ist ein Relikt und ein fotografisches Bild zugleich. Es sagt das mechanische Bild voraus, das nicht von Hand gemacht, sondern Ergebnis eines Kontakts ist. Es sucht die Fotografie heim als ein Bild, das ein Souvenir oder die Spur eines Ereignisses ist. Diese Reliquien aus Stoff, die Zeugnis von der Menschwerdung Gottes ablegen wollen, zeigen allerdings wenig. Nur die schwache Ahnung einer Figur ist auf ihnen zu sehen. Sie verweist vor allem auf das Material des Objekts selbst – ein zerknittertes Textil, ein Taschentuch – eine Art Leinwand.
Mittelalterliche Bilder des Heiligen Antlitzes haben daher einen seltsamen Status. Sie werden als „wahr“ erachtet, verhalten sich aber wie bloße Repliken (oder wie Kopien der Replik). In der Behauptung, diese Abbilder seien göttlichen Ursprungs, bricht sich der menschliche Wunsch Bahn, die Verbergung zu überwinden, die jede Repräsentation mit sich bringt. Stattdessen soll ein Bild geschaffen werden, das keine Darstellung ist, sondern das Heilige Wort gegenwärtig werden lässt.
Auf der westfälischen Vera Ikon, die auf Eichenholz gemalt in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen ist, schwebt der körperlose Kopf von Jesus Christus frei über einer goldenen „Mandorla“, einer mandelförmigen Umrahmung, die für mittelalterliche Ikonen typisch ist. In einem dunklen Ring aus Bart und Haaren zeichnet sich ein Gesicht mit tiefbraunen Augen ab; der Blick ist nach innen und zugleich auf die Betrachter gerichtet.
Ein simples Sfumato, eine Technik in der Ölmalerei, Konturen weich verschwimmen zu lassen, genügt, um das Gesicht lebendig und im Vergleich zur üblichen grafischen Darstellungsweise von Ikonen ausdrucksvoll menschlich erscheinen zu lassen.
Viele Charakteristika dieses Heiligen Gesichts stimmen mit einer Beschreibung von Jesus überein, die sich im Lentulus-Brief findet, einem Bericht, den Publius Lentulus, ein römischer Prokurator von Judäa, angeblich für den Senat von Rom verfasst hat. „Sein Haar hat die Farbe einer völlig reifen Haselnuss, bis zu den Ohren beinahe glatt, von da abwärts etwas gelockt über seine Schultern wallend und nach Sitte der Nazarener in der Mitte gescheitelt. Der Bart ist wenig stark, in der Farbe zu den Haaren passend, von nicht sehr großer Länge.“
Zahlreiche deutsche und niederländische Gemälde des Heiligen Antlitzes vom 14. Jahrhundert an entsprechen der Beschreibung des Lentulus, wobei Historiker die Existenz dieses römischen Prokurators nicht verifizieren konnten und den frühesten Zeitpunkt der Entstehung des ihm zugeschriebenen Briefs auf das 13. Jahrhundert datiert haben.
Unabhängig von der Frage, ob der gefälschte Brief die Echtheit der Bilder bestätigen sollte oder die Bilder vielmehr den Brief beglaubigen, erfüllt diese standardisierte Beschreibung des Heiligen Gesichts ihre Absicht: eine unsichtbare Welt ins Sichtbare zu übersetzen. Wie ein Traum, der erst nachträglich durch seine Beschreibung gesehen werden kann, deuten Bild und Text auf einen Prototyp, dessen Fehlen sie kompensieren sollen.
Wie oft auf solchen Bildern befindet sich auch auf der westfälischen Ikone eine Inschrift in gotischer Textur. Innerhalb der goldenen Mandorla umgibt die Inschrift das Antlitz von links nach rechts wie ein Heiligenschein. Sie offenbart die Worte des Erlösers und bezieht sich auf den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, auf die Sprache als Mittel der Schöpfung: „Ego sum alpha et o(mega) deus et homo.“ Ich bin Alpha und Omega, der Anfang und das Ende, Gott und Mensch.
Die Blutungen der Veronika
Das Heilige Gesicht ist mehrfach umschlossen; es wird gerahmt von den dunklen gelockten Haaren und dem Bart, von der Inschrift, von der goldenen Mandorla, von den Rändern der Tafel, wo sich jeweils drei Engel mit individuellen Zügen aus jeder der vier Ecken über Jesu Antlitz beugen, und schließlich von einem weiteren Rahmen, der blutrot bemalt und mit Medaillons verziert ist, die jeweils eine Blume umranden.
Könnte es sein, dass die nicht endenden Blutungen der mit Veronika assoziierten Frau aus dem Evangelium des Matthäus und die Abdrücke von Jesu Schweiß und Blut auf dem roten Rahmen der westfälischen Tafel fortexistieren? Verbindet das Blut die Passion Christi mit der Enthauptung der Medusa? Es gibt keine buchstabengetreue Rechtfertigung für diese Inszenierung – eines körperlosen, androgynen, den Gorgonen ähnlichen Kopfs, der über einer planen Oberfläche schwebt – und doch kommt sie in vielen Versionen des Heiligen Gesichts vor.
Die magischen, Glück bringenden Qualitäten, die Reliquien zugeschrieben werden, leben in der Rahmung dieser Vera Ikon fort. Von der Renaissance bis zur Avantgarde der Moderne umgeben Bilderrahmen das Gezeigte wie ein Fenster, durch das ein Stück der Welt sichtbar wird. Während diese Rahmen die mimetische Natur des Gezeigten verstärken und zugleich einen einzigen subjektiven Standpunkt der Kognition unterstellen, definiert der Rahmen der Ikone hingegen eine Welt, die vollkommen von der Realität getrennt ist.
Die Aufenthaltsdauer im Fegefeuer
Das westfälische Heilige Antlitz ist eine der wenigen vollständig erhaltenen Ikonen in Mitteleuropa. Selbst die beiden auf der Rückseite befestigten schmiedeeisernen Aufhänger sind wahrscheinlich original. Sie weisen darauf hin, dass solche Bilder in Häusern aufgehängt wurden, um vor ihnen zu beten. Eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Fegefeuer wurde jedem gewährt, der vor einem wahren Bild mit dem Antlitz Christi das Gebet „Salve sancta facies nostri redemptoris“ sprach, das am Ende der Tage Eingang in den Himmel verspricht.
Je größer der Wert des gewährten Ablasses im Lauf der Zeit wurde (er stieg von zehn Tagen im 13. Jahrhundert auf 10.000 Tage im späten 15. Jahrhundert), desto populärer wurde auch der Kult um Veronika.
Im Verlauf dieses Prozesses tat sich eine Kluft auf, die so alt ist wie der Streit über den Tanz um das goldene Kalb in der Bibel, der die Natur von Gottes Erscheinung und sein Bild betrifft. Der Widerspruch zwischen dem Verlangen, Gott zu sehen, und dem Gebot, das die Anbetung von Götzen oder Bildern untersagt, hat jede der drei monotheistischen Religionen, aber auch die Entwicklung der westlichen Bildproduktion wesentlich geprägt.
Es gibt kein Gottesbild, und vielleicht kein Bild überhaupt, das nicht diesen Riss in sich trägt. Er drückt sich auch im Widerspruch zwischen den jedem Bild innewohnenden Eigenschaften aus, entweder eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit in der Welt zu sein.
Die Beschaffenheit der Wirklichkeit
Als Kasimir Malewitsch in einer Ausstellung im Dezember 1915 in Petrograd das „Schwarze Quadrat“ enthüllte, platzierte er das Werk hoch oben in einer Ecke des Raums, dem heiligen Ort, an dem in einem russischen Heim die Ikone hängen würde. „Ich habe die nackte Ikone meiner Zeit gemalt“, schrieb er 1918 in einem Brief an seinen Freund, den Verleger Alexandre Benois.
Malewitsch (1879–1935) lehnte jegliche Referenten, also reale Bezugsobjekte, in der visuellen Sprache unerbittlich ab und betonte stattdessen die materiellen Qualitäten des Gemäldes: Textur, Farbe und räumlicher Illusionismus „als solcher“. Zugleich aber nannte er sein System der Malerei „neuer malerischer Realismus“ und erklärte, sein Ziel sei nicht, auf die Welt der Gegenstände zu verzichten, sondern im Gegenteil der wahren Beschaffenheit der Wirklichkeit näherzukommen.
Spätestens seit Édouard Manet wurde in der modernen Kunst die „Verbindung zur Realität“ wieder von der Ähnlichkeit des Abbilds getrennt. Möglicherweise konnten die Illusionen, welche die Malerei herzustellen gelernt hatte, nicht mehr den Glauben an die Realität bedienen, die sie auf so besessene Weise zu reflektieren versuchte; mit diesem Rückzug von der Ähnlichkeit machte die Malerei den Weg für die Fotografie frei, ist behauptet worden.
Die Ikone imitiert nicht
Malewitsch führte die Malerei zur Frage zurück, wie sie etwas zeigen kann, ohne es abzubilden. In dieser Frage ist ein Zweifel an der einfachen binären Unterscheidung zwischen Figuration und Abstraktion angelegt; sie scheint Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ mit den Ikonen des Heiligen Gesichts zu verbinden.
Ikon (vom griechischen „eikon“) bedeutet Bild, Ähnlichkeit. Ein Abbild scheint einen Referenten vorauszusetzen, das heißt, dass ein Bild als solches ein Ergebnis ist, das Imitation bedingt. Die Fixierung auf Ähnlichkeit in der Malerei wurde vielleicht erst mit der Erfindung der Fotografie aufgelöst oder zumindest verwandelt.
Die Ikone dagegen kopiert kein Objekt aus der äußeren Welt, sie imitiert nicht. Sie will uns Gott sehen lassen. Die Ikone interessiert sich nicht für die Illusion von Wahrheitsnähe. Sie kümmert sich nicht um ihren Betrachter, der jedenfalls kein „Zuschauer“ ist. In der Tat sehen Betrachter das „Wahre Bild“ weniger, als sie vielmehr selbst dem Blick des Bildes unterworfen werden.
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