Eine rheinische Weihnachtsgeschichte: Heimfahrt
Zu Weihnachten soll es besinnlich sein. Dörfer, Kirchen, Familie und die handelsübliche Melancholie weißer Männer jenseits der 40.
Die schönste Zeit des Jahres sind die Sommerferien. Da reist man meist auch; aber man reist eben nicht heimwärts, zurück in die Vergangenheit, sondern in ein eine Flugreise entferntes Paralleluniversum, in dem die Städte schöner sind und das Wetter immer gut und die Strände hellgelb und das Meerwasser türkis und nirgends ein Nadelbaum, schon mal gar nicht im Haus.
Meine Eltern sind geschieden, sie wohnen nur etwa zehn Kilometer von einander entfernt, aber in zwei unterschiedlichen Staaten. Sie haben eine Grenze zwischen sich gezogen. Praktischerweise war die Grenze schon vorher da; Mutter ist einfach von hüben nach drüben gezogen, ein Dorf weiter, von der deutschen auf die niederländische Seite. Mein Vater ist in Deutschland geblieben, praktischerweise.
Wobei der Landstrich, in dem er wohnt, nennen wir ihn historisch korrekt das südliche Hamaland, auch einmal Holland gewesen ist – nach 1949, zu der Zeit, in der meine Mutter dort geboren und aufgewachsen ist. Im Zuge einer ausgleichenden Rückgliederung wurde der kleine Landstrich mit seinen 10.000 Bewohnern im Jahre 1963 über Nacht wieder deutsch – in der berühmt gewordenen „Butternacht“, als Lkws aus allen Teilen der Niederlande in den Ort fuhren, beladen mit zollpflichtigen Waren. Um Mitternacht wurden so auch die rollenden Butterberge deutsch, ohne dass Zoll erhoben werden konnte.
Butter im Sommer, Pfeffernüsse und Lebkuchen zur Weihnacht. Eine Kleinstadt, eigentlich ein Dorf, mit ausgestorbenen Einkaufsstraßen, in denen leuchtende Sterne hängen. Geschmückte Wohnzimmerfenster, Lichterketten in den Vorgärten, vor einem Reihenhaus ein aufgeblasener Schneemann aus Vollplastik. Eine Plastiktanne vor einer mobilen Pommesbude am Marktplatz.
Ab in die Messe
In jedem Dorf steht eine Kirche, im Dorf meiner Eltern stehen drei. Zwei katholische (davon eine Stiftskirche), eine evangelische. Der mütterliche Zweig hat sich stets als sehr katholisch verstanden; mein Vater mit seinem gemischt rheinisch-hamburgerischen Arbeiterklassenhintergrund musste da wie ein Fremdkörper wirken. Aber via Karneval, Verein, Dorfkneipe findet man hier schnell Anschluss – und das Katholische wurde von den niederländischen Einwanderern, die inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, nach Kräften unterwandert.
Aber Weihnachten, da geht es in die Messe. Oder nicht?
Neulich fragte jemand, wann ich zuletzt aus freien Stücken eine Messe besucht habe. Antwort: Ich glaube, freiwillig noch nie. Doch, fiel mir dann ein, einmal, aus Recherchegründen: Es war derselbe triste Stumpfsinn wie in meiner Kindheit. Eine Abfolge von sitzen, knien, aufstehen; Litanei, Liturgie, natürliches Licht und lahmes Georgel. Das mag meditativ sein oder eben lust- und geisttötend. Dörflich und weltfremd.
Christmette, die Messe an Heiligabend: Konfliktproben zwischen Mutter und mir. Jedes Jahr habe ich aufs Neue probiert, der Herumsteherei ein Schnippchen zu schlagen und der Messe zu entgehen; was aber nur dazu führte – meine Mutter war selbst nicht die Organisierteste –, dass wir ganz hinten stehen mussten, weil wir wieder einmal zu spät gekommen waren. Mein Vater hingegen hatte es meistens geschafft und durfte zu Hause bleiben. Einer musste sich ja ums Essen kümmern.
„All the churches filled with losers
psycho or confused. I just want
to hold the divine
in mind. And forget
all of the beauties wasted“
Of Montreal, Gronlandic Edit
Als ich vor zwei Jahren heimgefahren war, hatte ich Heiligabend bei Muttern verbracht. Es war nett. Es gab ein kleines Festmahl, Rotwein, Gespräche. Geschenke, aber nicht zu viele. Später hat sie mich nach Hause gefahren. Also, von ihrem niederländischen Dorf über die Grenze ins deutsche. Ich stellte das Radio an, der Deutschlandfunk übertrug eine Christmette, live. Ich ließ den Sender stehen. Was soll’s, ist ja Weihnachten. Bis Mutter sagte: Such mal einen anderen Sender, ich kann mir das nicht anhören. Von der Kirche habe ich fürs Leben genug.
Die Kirche, die Nation.
Vater leitet eine Kettennachricht über Whatsapp weiter: „Hey, Angela Merkel!!! Hier in Deutschland haben wir Familien und Kinder, die nicht ausreichend zu essen haben. Alte Menschen, die schlecht behandelt werden (auch die, die im Krieg den Arsch hingehalten haben), Patienten, die nicht ausreichend behandelt werden. Menschen, die bis 67 arbeiten gehen sollen und junge Leute, die keine Arbeit haben. Aber wir geben Milliarden (!!!) für andere Länder aus, ohne zuerst dem eigenen Volk zu helfen. Wetten dass 99 % von Euch sich nicht trauen dies zu kopieren… ARMES DEUTSCHLAND !!!!!!!!!!!! Ich trau mich, wer noch!“ (Rechtschreibung, Kommasetzung wie im Original.)
Omas Sprichwörter
Die handelsübliche Melancholie weißer Männer jenseits der 40, der 50, der 60, der 70. Jammernde, selbstmitleidige Wesen. Im Seniorenheim sitzen sie im Speiseraum, der durch frequentes Piepen der Kaffeemaschine durchgetaktet wird. Niemand redet. Alle sitzen schweigend am Tisch. Hat sich erledigt, das Reden. Am Ende wartet die Wortlosigkeit, wortlos geht es auf die Zielgerade, wortlos geht es ins Grab hinab. Don’t fear the Reaper. Der Nachbartisch, keine 5 Meter entfernt, scheint so weit wie die nächstliegende Insel, deren Umrisse man bei guten Wetter gerade noch ausmachen kann.
Ein loses Winken.
Körper außerhalb jedes Zeitwohlstands. Manche bewegen sich, erratisch, ohne vom Fleck zu kommen. Spasmen. Parkinson. Du machst die junge Frau nervös, sagt Oma. Sie meint die Schwester, die auch dem Gast Kaffee und Kuchen serviert und den zur Uniform – weiße Hose, ein Hemd in einem schönen dunklen Lila – passenden Lippenstift aufgetragen hat; das andere Thema wäre die latente Geilheit, oder sagen wir, die Suche nach der rettenden Erotik, die sich hier schnell breitmacht – alles ist mit Erotik besser zu ertragen, der Tod, das Schweigen, der Schmerz, das ist wie beim Zahnarzt, die dann auch immer eine Zahnärztin ist. Ungerichtete sexuelle Appetenz. Ansonsten spricht sie, also Oma jetzt, nur noch in Redewendungen. „Die Zukunft ist überwältigend ungewiss“, so etwas sagt sie nicht, eher so Sachen wie: „Meiner Brille sind wohl über Nacht Beine gewachsen.“ Was es zwei Stunden zuvor zu Mittag gab, hat sie schon vergessen.
Finster zum Hof.
Bei meinem Besuch lese ich den Kindheitsbericht von Édouard Louis, „Das Ende von Eddy“, so als Gegengift. Louis ist im französischen Flandern aufgewachsen, auf dem Dorf, in untersten Schichten. Während Vater kocht, und meine Nichten seine Hunde ärgern, stelle ich fest, dass bei mir doch alles gar nicht so schlimm war. Es gab Gewalt, aber eher häusliche. Ich musste mich auch nicht verteidigen, weil schwul. Ich habe mich tatsächlich für Mädchen, für Fußball, für Popmusik interessiert. Gereicht hat es mir insgesamt natürlich trotzdem.
Kino-Weihnacht
Frohe Weihnachtserinnerungen: Der Flirt mit B. in der hintersten Reihe während der Christmette; die vergeblichen Gebete, die Liebe von P. zu gewinnen, die mich schließlich von Gott abbrachten; der Chor meiner durchaus musikalischen Großeltern vor dem Christbaum; die Glocke, die die Bescherung ankündigte, nachdem das Christkind aus dem Raum verschwunden war (wie ein Geist); die Modelleisenbahn des Großonkels, die er grundsätzlich nur zu Weihnachten aufbaute; all die Geschenke: der Atlas, der Globus, die Klamotten, die Bücher.
In der Kinowerbung laufen all diese Weihnachtsgeschichten immer auf irgendeine Marke hinaus.
„Wo ist der Besen?“
„Der Besen ist hinten.“
Mein Vater verteidigt die Hunde, mein Bruder seine Töchter. Ich liege auf dem Bett in meinem ehemaligen Kinderzimmer, das jetzt das Arbeitszimmer meines Vaters ist, und sehe aus dem Fenster. Ich bin 46 Jahre alt und fühle mich einsam. Draußen ist Winter. Es ist dieselbe Einsamkeit, die ich hier schon mit 16 verspürte.
Vater freut sich, wenn man „seine Serie“ mit ihm schaut.
Es ist eine Krimiserie, sie läuft nicht im gecrackten Bezahlfernsehen, sondern regulär im ZDF. „Die Rosenheim Cops“. Eine Mischung aus Krimi, Tümelei, Dialektpflege, heiler Welt, in die das Böse bieder hineinragt, um einen Fall zu bieten, der am Ende spielend leicht gelöst werden kann. Mit starken, hinterlistigen, aber stets nur zureichenden Frauenfiguren, die auch in ihrer jeweiligen Altersklasse attraktiv wirken. Deutsche Vorabendkunst, wie sie seit eh und je das Fernsehen prägt, egal, ob privat oder staatlich. Seltsam allerdings, dass ich selbst gefesselt bin. Weniger der Spannung wegen, sondern vielmehr wegen der Frauenfiguren und des leisen Humors.
Draußen liegt der Niederrhein im Nebel. Zu Weihnachten soll es besinnlich sein. Das schafft die Landschaft hier mit links. Ruhe und Besinnlichkeit, so weit das Auge reicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe