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Eine Rückfahrkarte

Über Wolfgang Koeppens „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“  ■ Von Willi Winkler

Weit und breit kein Jahrestag, dennoch scheint 1992 das Jahr für den heldenhaften, den todesmutigen Antifaschismus zu werden. Drei Beispiele, alle bei Suhrkamp: Ulla Berkéwicz, die nicht dabei war, weiß es genau; Robert Schindel war auch nicht dabei, ist aber in der Nähe von Mauthausen geboren und weiß es deshalb schon besser; und Wolfgang Koeppen, der es erlebt, aber nicht mitgemacht hat: Er kann's immer noch am besten.

Koeppen hätte Balzac und Zola auf einmal sein können, nur besser. In seinen Romanen Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954) übte er mit einem gewaltigen Sprachaufwand schärfste Kritik an der neuen Bundesrepublik und ihrer Wiederaufrüstung. Seine Sprache, im Wiederaufbau naturgemäß verschwendet, glänzte mit dem neuen Borgward um die Wette.

Doch Koeppen, der die Restauration in den Griff bekam, allerdings ohne daß sie sich hätte drum zu kümmern brauchen, dieser Koeppen verweigerte sich weiteren Sittenbildern und zog eine Existenz als Legende vor: der Autor, der nicht schreibt.

Eine schöne Inszenierung. John Updike hat diesen Typus des modernen Literaten (bei ihm gezogen aus den Beispielen Salinger und Brodkey) vor Jahren schon in seinen Kurzgeschichten um Henry Bech karikiert. Als Bech nach Jahrzehnten tatsächlich den Roman vorlegt, an dem er die ganze Zeit mit wahrer Verzweiflung nicht geschrieben hat, überfordert er das Publikum: Sein Verlag ist verkauft, die Kritiker müssen sich neue Phrasen für ihn ausdenken. Harold Brodkey — das nur nebenbei — hat im vergangenen Jahr wirklich den angekündigten Roman beim Verlag abgeliefert, The Runaway Soul, und der scheint dem Voraustadel der 'FAZ‘ zufolge auch so schlecht zu sein wie nicht anders zu erwarten.

Koeppen stellt es schlauer an. Vor Jahren hatte er sich in einem Interview beinahe verraten: „Ich bedaure es manchmal, daß ich nicht unter einem Pseudonym veröffentliche.“ Statt mit dem seit bald vierzig Jahren erwarteten „großen Roman“ über Berlin beziehungsweise Preußen beziehungsweise München beziehungsweise die Nachkriegsgesellschaft herauszurücken, outet er sich mit einem Pseudonym, das noch älter ist: Wolfgang Koeppen ist Jakob Littner, Briefmarkenhändler aus München und Jude obendrein.

Unter diesem Alias erschienen 1948 im Münchner Kluger-Verlag Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Verglichen mit dem hochgemuten Existentialismus der Elisabeth Langgässer (Das unauslöschliche Siegel) oder des unsäglichen Hans Egon Holthusen Kriegsgedröhn oder Gerd Gaisers Sterbender Jagd waren Littners Aufzeichnungen gänzlich unliterarisch, Zeitungsfeuilletonprosa, reinster Agitprop.

Das Leben, wir wissen es und bekommen es zeitungstäglich bestätigt, schreibt die besten Geschichten — nur kann es halt leider nicht schreiben. Hier ging ihm der hungernde Koeppen zur Hand. In den dreißiger Jahren waren in Deutschland zwei Romane und Erzählungen von ihm erschienen, während er in Holland lebte. Noch vor dem Krieg kehrte er aus diesem Exil zurück und stellte sich, wie er es nannte, in der Filmindustrie unter. Nach dem Krieg versuchte er wieder Journalist zu werden. Für einen befreundeten Verleger schrieb er das Nachwort zu einer Zola-Ausgabe. Bei diesem Verleger Kluger tauchte eines Tages der aus München vertriebene Briefmarkenhändler Jakob Littner auf und wollte als Geschäftsmann wie beim Notar sein Leben niedergelegt haben. Für monatlich zwei Care-Pakete, die der nach New York weiterreisende Littner zu schicken versprach, wurde Koeppen ein anderer: „Ich aß amerikanische Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte.“

Es ist die Geschichte eines assimilierten Westjuden, der sich seiner Herkunft kaum mehr bewußt ist. Seine Eltern wanderten aus Oswiecim oder, auf gut deutsch, Auschwitz nach Ungarn aus; Littner wird in Budapest geboren. Seine Heimat, der Ort, an dem er nie war, bleibt nach deutschem Paßrecht Polen. — Noch 1938 war Littner für einen seiner Stammkunden, den Obergruppenführer Schreck, der notfalls auch aus der Berliner Reichskanzlei anrief, der Briefmarkenhändler am Stachus. Dann kamen die Pogrome, und aus dem Münchner an der Prielmayerstraße wird „der Jude“. Seine Heimatstadt will ihn ins unbekannte Polen deportieren. In einem Spezialwaggon sitzt die Geheime Staatspolizei: „Funkapparate, Schreibmaschinen und Registraturen waren in Bewegung. Es war ein Bild der Gewalt und der Bürokratie...“ Die polnische Regierung verweigert den Abgeschobenen jedoch die Einreise, der Zug steht eine Nacht lang auf freier Strecke, dann dürfen die Heimatvertriebenen zurück nach Bayern. Wieder die kerndeutsche Kombination Gewalt plus Bürokratie: Für die Rückfahrkarte verlangt die Reichsbahn RM7,80.

Die Rückkehr, ein Aufschub. „Der Herbst bringt uns noch schöne Tage“: ein Satz für einen Brief nach Hause, es empfängt ihn nur keiner mehr. Die schönen Tage sind schon lang vorbei. Am 1.März 1939, nur zwanzig Jahre vor der Geburt des heutigen DIN-Deutschen, gibt sich Littner auf. Er meldet sich ordnungsgemäß ab und fährt nach Prag, dann nach Polen, flieht schließlich sinnlos weiter in die Ukraine. Die Deutschen vertreiben ihn, die Polen lehnen ihn ab, weil er kein Wort Polnisch spricht, dann wieder die Deutschen, die Littner wie seinem ganzen Volk ans Leben wollen. Letzte Station wird das Ghetto von Zbaraz.

Tag für Tag ist Littner vom Tod bedroht. Nur Briefmarkensendungen seiner Teilhaberin in München ermöglichen ihm, Brot zu kaufen und kleine Gefälligkeiten. In einem Brief erfährt er vom qualvollen Sterben seines Sohnes im Warschauer Ghetto. Unmittelbar danach, Gewalt und Bürokratie, werden die Juden vom Briefverkehr ausgeschlossen. Littner überlebt — Gipfel der unwahrscheinlichen Melodramatik — in einem Kellerloch unter dem Haus eines leidenschaftlichen Antisemiten, der Geld braucht.

Für den gewöhnlichen Mitteleuropäer, dem diese Greueltaten, die vor fünfzig Jahren auch in seinem Namen begangen wurden, langsam in die Folklore wegzutauchen drohen, bietet dieses Buch einen Blick in die Hölle. Die Aufzeichnungen sind vielleicht nicht besonders gut geschrieben, weit entfernt von dem Flitter, mit dem Koeppen wenig später unter eigenem Namen glänzen wird, doch sprachliche Prachtentfaltung würde hier nur stören. Die Untaten der SS, der Wehrmacht, auch des Judenrats spotten, wie es heißt, jeder Beschreibung, jeder Ausschmückung; sie bedürfen nicht der Literatur. Ganz verschwindet der Ghostwriter dennoch nicht hinter seiner Maske: Ander Anspielung auf

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einen Goethe-Vers, an Stellen, wo die Geigen gestimmt werden („Aus einem dunklen Himmel fällt der Regen stärker“), oder wo Littner sich zur Kriegspoesie aufrafft („Die Welle der Explosion glitt wie das unheimliche Streicheln des Todes über unsere Rücken“), merkt man den berufsmäßigen Schönfärber.

Zur Zeit von Jakob Littners Aufzeichnungen erschien auch Luise Rinsers Jan Lobel aus Warschau, wieder die Geschichte eines Juden, der jenes „Dritte Reich“ nur im Versteck überleben konnte, und Anne Franks Tagebuch aus einem Amsterdamer Hinterhaus: beides nicht gerade Literatur, aber um so eindringlicher.

Es war die Zeit der hohen Auflagen, damals, kurz vor und nach der Währungsreform. Kultur ging billig her und die allfällige Betroffenheit auch. Aus dem „Das habe ich nicht gewollt“ (O-Ton bei Gelegenheit einer Schlachtfeldbegehung mit Generälen) des zweiten Wilhelm war das kollektive „Das habe ich nicht gewußt“ geworden. Nur zu gern ließ man sich's erzählen, von Leidtragenden, die eine Odyssee hinter sich hatten durchs schwarze Land; von den Opfern, die dabei waren und doch irgendwie überlebt hatten.

So, als Abenteuererzählung, bei der's einem schön-schaurig gruselte, so hatte man die Hitler-Zeit gern. Der beste Jude war jetzt nicht mehr der tote Jude, sondern einer, der aus einem Loch gekrochen kam, blinzelnd, ohne Goldbrücke, die Füße krumm, und dann das: „Ich hasse niemanden. Ich hasse auch die Schuldigen nicht.“

Diese Größe! Dieser Edelmut, mit dem die Aufzeichnungen enden! Und wie schön, daß der große Humanist Littner nach diesen Worten wieder aus Deutschland verschwand.

Koeppen wurde vom Schreiber wieder zum Schriftsteller. Um 1950 sei der Verleger Henry Goverts zu ihm mit der Frage gekommen, warum er nichts mehr schreibe. „Das frage auch ich mich, worauf ich all die Jahre gewartet hatte und warum ich Zeuge gewesen und am Leben geblieben war.“ Und Koeppen schrieb.

Vielleicht hat man ihm keinen Gefallen damit getan, ihn zur großen Literaturbeschreibung der BRD aufzurufen. Bei dem Tempo, in dem er einmal Bücher hinwarf, wäre Koeppen der ideale Autor für den schnellen, vergänglichen Zeitroman gewesen, ein Fassbinder der deutschen Literatur. Statt dessen wurde ihm der Total-Roman aufgebürdet, Lukács sollte leben, und wenn Koeppen daran zugrunde ging.

Immerhin hat er nach dem Krieg eine Zeitlang den Umerziehungsauftrag erfüllt, den inzwischen ein Lehnstuhlhistoriker der gesamten bundesrepublikanischen Literatur zum Vorwurf macht. Wegen Koeppen und einer Handvoll weiterer Gerechter mußte Deutschland nicht ganz untergehen.

Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main. 152Seiten, geb., 28DM.

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