Eine Reise durch Darmstadt: Von Badesalz bis Mundstuhl
Darmstadt hat keinen besonders guten Ruf. Das könnte sich nun ändern, denn seit Kurzem hat die Stadt einen Bundesligisten.
Darmstadt, Südhessen. Vom Bahnhof in die Stadtmitte der 150.000-EinwohnerInnen-Stadt folgt man am besten der viel befahrenen Rheinstraße. Das Zentrum ist da, wo der City-Tunnel seinen orangefarbenen Schlund aufsperrt – und die Straße mitsamt einem Bandwurm an Autos verschluckt. Dahinter innerstädtisches Stillleben: eine Sparkasse, ein Starbucks, eine Shoppingmall. Die Mitte markiert das Ludwigsmonument, der „lange Lui“, 40 Meter hoch, zu dessen Füßen Platz für historische Subkulturen geschaffen wurde – bis vor Kurzem etwa versammelte sich hier die vielleicht letzte Grufti-Szene Westdeutschlands.
Dennoch hat Darmstadt keinen besonders guten Ruf. Doch das könnte sich nun ändern, denn die Stadt ist Heimat eines Bundesligisten. Der kometenhafte Aufstieg des SV Darmstadt 98 ist eine Art Fußballmärchen im Miniaturformat, in kaum acht Jahren schafften es die „Lilien“ von der Hessen- in die Bundesliga.
Bekannt und berüchtigt ist Darmstadt auch wegen seines Namens. Woher der kommt? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Die favorisierte – und vermutlich dennoch falsche – ist die Herleitung vom Darmbach, einem Rinnsal, das, in einem jahrelangen Kraftakt ausgebuddelt und renaturiert, heute an den unmöglichsten Stellen im Stadtbeton auftaucht.
Dünnpfiff-les-Bains
Wiglaf Droste bezeichnete Darmstadt einmal als Dünnpfiff-les-Bains und traf damit exakt die Mischung aus Verachtung und ungläubigem Respekt, mit der die Stadt betrachtet wird: die nur nachlässig aufgemöbelte Siebzigerjahrearchitektur, die ewig nachgeteerten Straßen, Gehwege aus Kies, die Liebe zur Mundart. Dabei besitzt Darmstadt mit dem Chemiekonzern Merck, der mit 9.000 Arbeitsplätzen größter Arbeitgeber ist, und einer boomenden IT-Branche eine beachtliche Wirtschaftsleistung – und ist vielleicht zu Höherem bestimmt. Darmstadt aber ist gerne Provinzstadt.
Der SV Darmstadt 98 ist dafür ein gutes Beispiel, und auch dessen marodes Stadion, das bloß „Bölle“ genannt wird. Seit letztem Jahr heißt es offiziell „Merck-Stadion am Böllenfalltor“. Doch das hat die Bausubstanz auch nicht verbessert. „Darmstädter Ekel-Stadion“ nannte es die Hannoversche Neue Presse.
Und tatsächlich ist die Arena kaum von den umliegenden Trainingsplätzen zu unterscheiden. Den Sprung in die Erste Liga hat sie nicht mitgetan: nur 16.500 Plätze, die berüchtigte Gastumkleide, die mit einem Eimer Wandfarbe bundesligatauglich gemacht wurde, ein Presseraum, der aussieht wie Vatis Hobbykeller. Es ist auch unrentabel – nur 3.000 Tickets schaffen es in den freien Verkauf. „Wirtschaftlich ist das nicht optimal“, sagt Jan Becher vom SV 98 und lächelt.
Das Herz der Fans hängt am Provisorium. Frei nach César Luis Menottis Theorie vom „linken Fußball“, der sich nicht an Erfolg und Wirtschaftlichkeit orientiert, sondern am Spiel. Oder, wie es in der Lilien-Hymne von Decubitus heißt: „Irgendwo in Fußball-Deutschland gibt es einen blinden Fleck / Behandeln der DFB und Sponsoren wie den allerletzten Dreck.“
Und nun soll das Stadion für 33 Millionen Euro doch noch in die Erste Liga gehievt werden. Gegen den drohenden Verlust der „Böllenfalltor-Kultur“ regt sich Protest. „Ich habe Angst, dass wir so einen 08/15-Betonklotz dahingestellt bekommen“, sagt etwa Kerstin Lau, Vorsitzende der unabhängigen Ratsfraktion „Uffbasse“ und aktiv im Fanbündnis „Tradition hat Zukunft“.
Sie stört vor allem, dass Darmstadt einiges hat schleifen lassen – die Pflege der Infrastruktur vom Stadion über Schulen, Straßen und Kanäle. Von „Investitionsstau“ spricht Lau. Und den Kredit soll nun ausgerechnet die Stadt an den Betreiber geben. Dafür bekam sie eine Sondergenehmigung – denn mit 850 Millionen Euro Schulden (12.622 Euro je EinwohnerIn) ist Darmstadt die am höchsten verschuldete, kreisfreie Stadt Deutschlands und befindet sich unter dem Kommunalen Rettungsschirm.
Noch bis Anfang dieses Jahrtausends allerdings war Darmstadt nahezu schuldenfrei. Zwar stehen in der Innenstadt eine Reihe millionenschwerer Um- und Neubauten: Gebäude der Technischen Universität, das Landesmuseum, das Staatstheater. Doch die Gelder kamen aus der Landeskasse. Einzig das Kongresszentrum, eröffnet 2007, zahlte die Stadt: der Bau mit verschobener Stein- und Glasfassade heißt Darmstatium – nach einem radioaktiven Element, und der Stadt, in der er steht.
„Oi! Saufen! Prost, Metzger!“
Aber es ist nicht so, dass Darmstadt nichts zu bieten hat. Sie gilt als Literaturstadt. Seit den Fünfzigern gab es im Verlagsviertel Dutzende Verlage und Druckereien. Der Georg-Büchner-Preis wird hier verliehen, da die Deutsche Akademie der Sprache und Dichtung in Darmstadt sitzt. Genauso wie das PEN-Zentrum. Und die Schriftstellerin Gabriele Wohmann lebte bis zu ihrem Tod vor wenigen Wochen zurückgezogen am Rand der Künstlerkolonie nahe der Mathildenhöhe.
Im Stadtparlament sitzt das linke Bündnis „Uffbasse“ – darmstädterisch für „aufgepasst“ –, dessen Gesicht, Jörg Dillmann, bei der OB-Direktwahl 2005 mehr als sechs Prozent erhielt. Bekannt ist er vielen, vor allem den Älteren, als Frontmann der Punk-Band „Die Arschgebuiden“ (“Oi! Saufen! Prost, Metzger!“).
Und auch darüber hinaus hat Darmstadt eine lebendige Musikszene. Die vermutlich letzte Indie-Band Deutschlands, die sich nach einem Teich benannt hat: die Woog Riots (englisch ausgesprochen). Zwar gab es am Woog (deutsch ausgesprochen), einem innerstädtischen Badesee, selbstverständlich keine Rebellion.
Nicht einmal während 1968 in Frankfurt Straßenkämpfe tobten. Aber die Funktion der Indie-Musik in der Provinz war ja immer schon das Ausschmücken der tristen Realität. Womit wir wieder bei den „Lilien“ wären. Mit seiner ehemaligen Band hatte Woog-Riots-Sänger Marc Herbert einen kleinen Stadionhit gelandet. „SV 98 immer Europapokal“ lautet der zeitlos utopische Titel.
„Eine zu melkende Kuh“
Aber Moment, eine Rebellion gab es eben doch. Die März-Revolte, welche die literarische Gegenkultur in die Literatur-Provinz brachte. Der vielleicht schönste Coup der deutschen Literaturgeschichte fand in am 18. März 1969 in Darmstadt statt: Protagonist der spektakulären „Sezession“ im eigenen Laden, dem Darmstädter Melzer Verlag, war Jörg Schröder.
Mit fünf „Mitverschwörern“ (Schröder) übernahm er, ganz legal, die Verlagsstruktur – mitsamt Repertoire, MitarbeiterInnen, AutorInnen und dem deutschen Ableger der Olympia Press, einem Pornoverlag. Sie brauchten dafür nicht mehr als ein leeres Büro, ein Telefon und „eine zu melkende Kuh, die Olympia Press“, wie Jörg Schröder und Barbara Kalender in ihrem Erzählband „Schröder erzählt: Erste Sezession“ schildern.
Mit der Gründung des März Verlags wurde hier Ernst gemacht mit der Neuordnung der Literatur. Am 19. März war das Ganze offiziell. Man lieh sich Portogeld und finanzierte den März Verlag aus den Gewinnen der Olympia Press. „Für mich war es der Nukleus der März-Revolte und die Zeit, als ich aus der Literatur-Provinz die Avantgarde-Stätte mit R. D. Brinkmann, Acid-Anthologie, ‚Roter Stern über China’, ‚Sexfront’, Vesper und ‚Kuckucksnest’ machte, erst danach kam Frankfurt“, sagt Schröder. Der Coup also war perfekt. Der Erfolg stellte sich bald ein. Selbstredend kehrte der Verlag Darmstadt dann sofort den Rücken.
Man gewinnt eben nicht gern in Darmstadt. Ob das Ziel jetzt Deutscher Meister sei, fragte jüngst ein TV-Journalist den SV-98-Trainer Dirk Schuster. Der verwandelte die Vorlage gekonnt: „Dann müssen wir aber die Sportart wechseln.“ Oder eben die Stadt.
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