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Eine Grenze für das Paradies

Eine offizielle Anerkennung der Kaschmir-Waffenstillstandslinie würde sowohl Indien als auch Pakistan Vorteile bringen. Die Initiative dafür kann jedoch nur von außen kommen

Wenn Frieden herrscht zwischen wohlhabenden Nachbarn, werdenGrenzen irrelevant

Die Intensität der indisch-pakistanischen Rivalität mag schwanken, ihre grundlegenden Parameter dagegen sind so eingefroren wie der Schnee des Himalaja. Identische Fakten, gesehen durch die entstellende Linse der verbitterten Feindschaft, führen auf beiden Seiten stets zu sehr unterschiedlichen Fragestellungen: Ist Kaschmir die Ursache des indisch-pakistanischen Konflikts – oder die Folge? Ist ein mit einer Kalaschnikow bewaffneter Mann in Kaschmir ein Freiheitskämpfer, der sich einer brutalen Besetzung durch indische Truppen widersetzt – oder ein ausländischer Gotteskrieger, trainiert von pakistanischen Geheimdiensten, um terroristische Attacken auf indische Ziele zu verüben? Wo ist die Linie zwischen moralischer und politischer Unterstützung für legitime Ziele – und solchen Aktionen, die grenzüberschreitenden Terrorismus unterstützen? Wo schließlich ist die Grenze zwischen der Verteidigung der eigenen territorialen Integrität gegen ausländische Terroristen – und dem Rückgriff auf Staatsterrorismus?

Vor langer Zeit hat ein Dichter Kaschmir als das einzige echte „Paradies auf Erden“ bezeichnet. Heute ist Kaschmir der wahrscheinlichste atomare Brennpunkt der Welt. Die Schätzungen, wie viele Opfer ein solcher Krieg selbst bei einem begrenzten Einsatz atomarer Waffen fordern würde, reichen von drei bis zwölf Millionen Tote. Aber auch ohne einen Krieg hat die Eiszeit zwischen den beiden Staaten auf dem indischen Subkontinent die Entwicklung von Fortschritt und Wohlstand behindert.

Das gilt für beide Seiten: Einerseits kann Indien seine militärische Überlegenheit nicht in legitime Herrschaft über Kaschmir umwandeln; andererseits kann Pakistan Kaschmir nicht durch Waffengewalt Indien entreißen. Der dauernde Streit zwischen beiden Staaten hat sie darüber hinaus vom Rest der Welt entfremdet. Wenn Außenstehende sich weigern, zu tief in den Konflikt verwickelt zu werden, werden sie von Pakistan dafür kritisiert, die indische Unnachgiebigkeit zu belohnen. Wenn sich Außenstehende dagegen ernsthaft in den Konflikt einmischen, riskieren sie den indischen Vorwurf, die pakistanische Provokation und atomare Risikopolitik zu honorieren.

Die Kosten dieser Situation sind immens: In Kaschmir hat Indien seine Verpflichtung zu Demokratie, Pluralismus und Toleranz im Rest des Landes verletzt. Die Unzufriedenheit der Kaschmiris ist eher in der wiederholten Ablehnung ihrer politischen Entscheidungsfreiheit durch eine sich einmischende Zentralregierung in Neu-Delhi und in dem brutalen Vorgehen der indischen Truppen verwurzelt als in der Tatsache, dass Indien ein Land mit einer Hindu-Mehrheit ist. Für Pakistan ist der Preis von Sturheit und einer Politik des Stillstands allerdings noch höher. Sie drohen, das Land noch vor dem verhassten Nachbarstaat zu zerstören.

Pakistan befand sich schon auf dem Weg zur Talibanisierung, als es aufgrund der neuen Konstellationen der Weltmächte nach den Anschlägen des 11. Septembers eine letzte Gelegenheit erhielt, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Präsident General Pervez Musharraf wandte sich, unter intensivem diplomatischen Druck der USA und militärischem Druck Indiens, von einer zwei Jahrzehnte langen Politik des strategischen Investments in Afghanistan und des Appeasements mit islamischen Radikalen ab. Seitdem wächst nicht nur die Sympathie für Indien, sondern auch die Skepsis bezüglich der Lücke zwischen Pakistans öffentlichen Erklärungen und seinen konkreten Handlungen gegen Dschihad-Krieger in Kaschmir. Allerdings herrscht auch Verständnis für Musharrafs schwierige Aufgabe, Pakistan von einer Dschihad-Kultur in ein modernes und progressives Land zu verwandeln.

Wenn Musharraf Pakistan von dem Syndrom eines gescheiterten Staates rettet, die Koran-Kalaschnikow-Kultur der Islamschulen beendet und die islamischen Militanten unter die Kontrolle des Staates stellt, wird er auch den Hindu-Fundamentalismus in Indien untergraben und die Wahlchancen der hinduistischen Bharatya Janata Party vermindern. Und ohne Kaschmir als emotionalen Fixpunkt für kruden Nationalismus würde auch Pakistans Militär in Zukunft eine geringere politische Rolle spielen. Frieden in Kaschmir wird folglich helfen, die säkulare und progressive Demokratie in beiden Ländern zu festigen und zu verwurzeln.

Warum also nicht fortschreiten auf der Basis der Legalisierung des Status quo, bei der keine Seite verliert oder gewinnt? Die De-facto-Grenze durch Kaschmir hat sich seit 55 Jahren der Feindschaft kaum bewegt. Beide Länder haben für diese unbewegliche Situation einen enormen Preis bezahlt. Indien kann nicht seine globale Rolle wahrnehmen, bis es die Beziehungen in seiner eigenen Region geordnet hat. Und keine pakistanische Regierung kann alle Bande zu Extremisten in Kaschmir kappen, solange es keine international anerkannte Grenze gibt.

Damit Frieden erreicht und gehalten werden kann, müssen beide Seiten einen Handel eingehen. Ein Anfang könnte der gegenseitige Truppenrückzug und die faktische Demilitarisierung entlang der Waffenstillstandslinie sein. Den Endpunkt sollte die Umwandlung der heutigen Waffenstillstandslinie in eine internationale Grenze bilden.

Weder in Indien noch in Pakistan gibt es den Spielraum, Initiativen der anderen Seite anzunehmen

Der begrenzte innenpolitische Spielraum lässt jedoch weder in Indien noch in Pakistan viel Platz für Zustimmung zu Initiativen der jeweils anderen Seite. Außenstehende, die die Umwandlung der Waffenstillstandslinie in eine internationale Grenze vorschlagen, könnten dagegen mehr Erfolg haben. Denn die Welt ist weder überzeugt von der moralischen Aufrichtigkeit eines der beiden Länder, noch ist sie beeindruckt von deren selbstherrlichen Positionen. Ein Vorschlag von außen eröffnete dagegen auch die Möglichkeit, sich einzumischen und Druck auszuüben, ohne eine Seite zu bevorzugen. In der Tat würde eine internationale Kaschmir-Initiative sowohl Indien als auch Pakistan für ihr unverantwortliches Handeln bestrafen und dazu führen, dass sie Ansprüche auf Gebiete auf der jeweils anderen Seite der Linie aufgeben müssten.

Langfristig gäbe es zwei weitere Konsequenzen. Wenn auf die Stabilisierung Frieden folgt und dies wiederum Wachstum in der gesamten Region fördert, dann würde die Festigung des ökonomischen Erfolgs und der liberalen Demokratie eines der strukturellen Fundamente des Terrorismus ernsthaft untergraben. Die Entstehung einer wohlhabenden Mittelklasse würde zudem das Bestreben schwächen, Macht über eine Gruppe auszuüben, die ihre Unabhängigkeit selbst bestimmen will. Denn in der heutigen Welt sind Grenzen dann irrelevant, wenn Frieden herrscht zwischen wohlhabenden Nachbarn. Derzeit schadet „der Fall Kaschmir“ allen Beteiligten: Kaschmiris, Indern, Pakistanern – und auch Außenstehenden. Wenn erst einmal Ruhe eingekehrt ist, würde Kaschmir wieder zu einem „Paradies auf Erden“ für alle Bewohner und Besucher. Und zwar unabhängig von ihrer Nationalität und Religion. RAMESH THAKUR

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