: Eine Fünfzeilennotiz
In Palermo wurden zwei Kleindealer verhaftet / Die Geschichte eines verlorenen Kampfes ■ Aus Rom Werner Raith
„Stiefel„-Leser stellen sich meist auf eine vergnügliche Lektüre dieser Spalten ein. Diesmal wird da nichts draus. Das Folgende ist die Geschichte eines verlorenen Kampfes, der Bericht über einen verzweifelten Ruf, den niemand hat hören wollen.
Am 24.Oktober hat die palermische Antidrogenpolizei zwei Jugendliche festgenommen, die Rauschgift ausgerechnet an einen Zivilfahnder zu verhökern versucht hatten - direkt vor ihrer Sozialwohnung im Stadtteil Santa Rosalia nahe dem Universitätsviertel. Eine Fünfzeilennotiz in den Zeitungen berichtete darüber. Doch die Verhaftung von Pietro und Enrico Quattrocchi, 16- bzw. 17jährig, ist unvorstellbar viel mehr und etwas völlig anderes als die „übliche“ Festsetzung einiger Nachwuchskrimineller in der kriminellsten Stadt Europas; sie ist das Dokument der Isolation.
Der Vater der beiden Jungen, Cosimo Quattrocchi, wurde 1985 beim Überfall einer Killertruppe in dem zu seiner Metzgerei gehörenden Stall umgebracht - zusammen mit sieben anderen Männern, seinem Bruder, seinen Vettern. Täter wurden bis heute keine verurteilt, die mutmaßlichen Auftraggeber kamen aus Beweismangel frei. Doch die Frau des Cosimo Quattrocchi, Pietra Lo Verso, hat nicht, wie sonst üblich, geschwiegen zum Tod ihres Mannes, sich nicht gefügt in ihr parlemisches Schicksal. Sie hat sich im Prozeß als Nebenklägerin konstituiert, hat auf die „ehrenwerten Herren“ gezeigt, die ihrem Mann schon vorher durch Drohanrufe und Nachstellungen zu schaffen gemacht hatten.
Von dem Moment an, als Pietra Lo Verso Gerechtigkeit forderte, begann für sie über den Tod ihres Mannes hinaus die eigentliche Hölle. Niemand getraute sich mehr zu ihr in die Metzgerei - innerhalb von nur zwei Monaten war sie pleite und stand so mit ihren vier Kindern - damals sieben, elf, 14 und 15 Jahre alt - auf der Straße. Pfändung der Möbel, der wenigen Habe, die ihr geblieben war, und keinerlei Chance, irgendwo einen Arbeitsplatz zu finden, weder für sich noch für ihre Söhne (der älteste hatte Metzger gelernt). Wer sich gegen die Mafia stellt, ist verloren. Selbst der antimafiose Bürgermeister Leoluca Orlando konnte nicht helfen: Die staatlichen Gesetze sehen Hilfen für Mafiaopfer nur im Falle von Beamten oder Staatsbediensteten vor, und die regionalen Gesetze verbieten Beschäftigungen von Personen, deren Angehörige im Verdacht mafioser Händel stehen. Nun war Cosimo Quattrocchi nie in einen mafiosen Fall verwickelt gewesen. Doch die Behörden argumentierten, daß der Mann im Rahmen eines „Mafiakrieges“ gefallen sei und damit der Verdacht bestehe, auch er habe heimlich entsprechende Geschäfte getrieben. Also: kein Geld für die Hinterbliebenen.
1985, kurz nach der Ermordung des Mannes, habe ich Pietra Lo Verso zum ersten Mal getroffen. Klein, verhärmt, schwarz gekleidet, mit einem nur schwer verständlichen Dialekt, immer dem Weinen nahe und stets in Tuchfühlung mit einem ihrer Kinder - aus Angst, auch sie noch zu verlieren. Für das nach einem kurzen Interview ausbezahlte Honorar versuchte sie sich mit Handküssen zu bedanken - Dutzende von Fernsehteams waren bereits bei ihr, hatten ihr die Wohnung auf den Kopf gestellt, Geld versprochen; angekommen war nie etwas. (Ich erlebte Ähnliches noch diesen Sommer, als ich einen ZDF-Redakteur nur mit Mühe zur Zahlung eines Interview -Honorars bewegen konnte.) Der jüngste Sohn schreibt Appelle an die Mafia, vom Töten abzulassen, die Tochter wünscht sich nur, aus dem Internat - wo ein gnädiger Priester sie aufgenommen hat - wieder zur Mutter zurück zu dürfen, der Älteste ist auf Arbeitssuche, der Zweite liegt den ganzen Tag im Zimmer und liest.
Die Lage bessert sich nicht; bei all unseren Treffen erfahre ich nur Hiobsbotschaften: Keine Arbeit, Pietra hat Angst, ihre Söhne könnten auf die schiefe Bahn kommen. Mit Hilfe einiger Artikel über das Schicksal von Mafia-Opfern gelingt es uns, eine TV-Station zum Geldsammeln zu bewegen, doch die umgerechnet 15.000 Mark, die für Frau Lo Verso zusammenkommen, reichen nicht einmal zur Auslösung der Hälfte ihrer Schuldscheine. Meine Frau und ich machen ihr den Vorschlag, den am stärksten gefährdeten Ältesten nach Rom oder an unseren Wohnort Terracina zu holen und in einer Metzgerei unterzubringen; Pietra Lo Verso ist einverstanden, doch der Junge hat Angst. Wir überreden ihn, sich die Sache einmal anzuschauen.
Doch dann beginnen die Probleme. Ein Metzger, der uns bereits zugesagt hatte, bekommt Bedenken, ob er nicht doch von der Mafia Schwierigkeiten zu befürchten hat; die Frau eines anderen erklärt uns, daß sie „natürlich nur mit absolut sauberen Lehrlingen zusammenarbeiten können„; zwei andere Geschäfte wollen ihn, probehalber, im August testen doch welch psychische Katastrophe wäre es für ihn, wenn sie ihn dann wieder hinauswerfen? Der Verdacht, sie wollten ihn nur für die Hochsaison ausbeuten, liegt nahe. Im September 1988 bekommen wir endlich die Nachricht, daß sich ein Metzger in Terracina bereiterklärt hat, den Jungen bei sich zu beschäftigen, wenn wir eine Finanzgarantie übernehmen, falls er klauen sollte. Wir übernehmen sie, doch das Arbeitsverhältnis kann erst im nächsten April zur Frühjahrssaison beginnen.
Pietro und Enrico konnten nicht mehr warten. Sie haben sich Stoff besorgt und zu dealen begonnen. „In drei Monaten hast du gerade 300.000 Lire herangeschafft“, haben sie ihrer Mutter gesagt, „wir statt dessen haben in vier Stunden 800.000 Lire verdient.“
Für Palermo, die wenigen engagierten Antimafiakämpfer einmal ausgenommen, ist damit die Welt wieder in Ordnung. Der revolutionäre Schritt Frau Lo Versos, die die Mafia nicht toleriert, sondern angeklagt hat, ist kompensiert, alles wird wieder normal. Und auch die Jungen, die nun im Jugendgefängnis Malaspina einsitzen und dort das „Handwerk“ erst richtig lernen werden, sind auf einem ganz normalen Weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen