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Eine Begegnung im ExilUnter „Verrätern“

Wegen eines Haftbefehls musste unser Autor aus der Türkei flüchten, wo er einst als Journalist arbeitete. Im deutschen Exil begegnet er einem Militär

Ein Bild der Zerstörung aus der Stadt Nusaybin im Oktober 2016 Foto: dpa

Eigentlich dachte ich, mein Land auf immer verlassen zu haben, sobald das Flugzeug abhob. Nie wieder zurück. Manchmal fragen sie mich: „Wie fühlt sich das an?“ Es fühlt sich so an wie der Augenblick, als das Flugzeug stark genug beschleunigt hatte, um den Kontakt mit dem Boden abzubrechen. Über das, was zurückbleibt, lässt sich viel reden und viel schreiben. Ich möchte hier nur einen kleinen Ausschnitt meiner Geschichte wiedergeben.

Vor ziemlich genau zwei Jahren beschossen die türkischen Streitkräfte kurdische Städte wie Cizre, Nusaybin und Sur mit Panzern. Tausende von uniformierten und maskierten Personen übten mit den neuesten Sturmgewehren in der Hand oder am Abzug schwerer Artilleriegeschütze ihre Amtsgewalt aus.

Als Journalist versuchte ich, die Zerstörung zu verfolgen und zu dokumentieren. Es war schwer in Worte zu fassen, was ich sah. In der Kreisstadt Silopi lag der Leichnam einer älteren Frau namens Taybet tagelang auf offener Straße und konnte angesichts der maskierten Scharfschützen nicht geborgen werden.

Eine Strichliste über die Toten

In Cizre wurde ein drei Monate alter Säugling namens Miray in den Armen seiner Mutter von Kugeln erschossen. Von Kugeln wurde auch der Schädel von Helin Şen zerfetzt, während sie gerade Brot kaufen gehen wollte. Der Autopsiebericht führt an, sie habe drei Tage vor ihrem Tod nichts mehr gegessen. Anderswo rissen Panzergeschosse eine Mutter am Frühstückstisch vor den Augen ihrer Kinder in Stücke. Wer darüber schrieb, wurde verhaftet. So geschah es vielen meiner Kolleg*innen. Es war verboten zu berichten, was geschah. Wer es versuchte, wurde als „Vaterlandsverräterin“, „Spion“ oder „Terroristin“ bezeichnet.

Manchmal wurde ich von dem Gefühl überwältigt, dass alles, was ich tat, zu nichts weiter führte als einer Strichliste der Toten, um damit verlorenes Menschenleben wenigstens in Zahlen festzuhalten. Der anderen Seite genügte das, um mich zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Ich verlies das Land, bevor der Haftbefehl ins Computersystem eingegeben wurde.

Es war eine traurige, aber eine richtige Entscheidung. Erst gestern, am Sonntag, den 21. Januar 2018, stürmten Spezialpolizisten einmal mehr meine Wohnung in Diyarbakır, weil ich mich auf Twitter zum Angriff der türkischen Armee auf das kurdische Afrin äußerte. Sie streckten meinen Familienmitgliedern Gewehre mit langen Läufen entgegen und fragten sie, wo ich sei.

Das eigene Land den Tätern überlassen

Ich verließ mein Land zu einer Zeit, da es nicht einmal den Toten gestattet war, in Würde bestattet zu werden. Ich verließ es unter der Last all der Dinge, die ich in mein Gedächtnis bloß hineinstopfen konnte, fürchtend, dass ich sie niemals würde verarbeiten, geschweige denn in Gänze würde erzählen könnte. Mein Land überließ ich den Tätern. Aus einer Entfernung von Tausenden von Kilometern blicke ich auf mein Land, wo sich seither nichts geändert hat, wo immer noch Kinder von Panzerfahrzeugen platt gewalzt werden und es hinterher heißt, das sei ein Unfall gewesen.

Wo meine Freund*innen weiterhin in Haft sitzen oder neu verhaftet werden, wo unterdessen archäologisches Kulturerbe, über das ich einst schrieb, zerstört wurde. Auch nach zwei Jahren bin ich immer noch nicht darüber hinweggekommen, dass ich angeklagt wurde, Zeuge von Unrecht und Zerstörung gewesen zu sein.

Ich bin jetzt einer von Tausenden, die in einem gänzlich fremden Land namens Deutschland um Asyl ansuchen mussten. Ich bin einer von denen, die aus der Ferne zurückblicken.

Die Vergangenheit holt ein

Egal wie weit man weggeht, die Vergangenheit kommt immer mit. Vor allem dann, wenn einer von den Menschen, die zu dieser Vergangenheit gehören, ein Täter ist und plötzlich vor dir steht.

So passierte es mir vor etwa einem Monat. In einer großen deutschen Aufnahmeeinrichtung gibt es einen Speisesaal, wo Menschen fast jeder Nation zusammenkommen, um zu essen. Ich sitze an einem ziemlich langen Tisch. Ich stochere in einem Essen, von dem ich nicht weiß, was es ist, und an dessen Geschmack ich mich nie wieder erinnern möchte, als sich ein türkischsprachiger Mann an meinen Tisch setzt. Direkt neben mich.

Er ist Mitte 40 und spricht ein elegantes Türkisch. Wir begrüßen einander. Ich erfahre, dass er ein Militär ist. Ich höre auf zu essen und starre ihn an. In der Türkei hätte es diese Begegnung vermutlich nie gegeben. Ein paar Tage später traf ich ihn erneut und wir unterhielten uns lange.

Es stellte sich heraus, dass er einer jener maskierten Offiziere war, die vor zwei Jahren bei der Zerstörung der kurdischen Städte beteiligt war. Siebzehn Jahre lang hatte er den türkischen Streitkräften gedient und einhundert Tage lang war er im Fronteinsatz in Nusaybin, einer der Orte, wo die Zerstörung am brutalsten und umfassendsten war.

Mitleid für den Gegner

In der Türkei wäre es ausgeschlossen gewesen, dass wir am gleichen Tisch sitzend das Brot teilen. Denn für ihn bin ich ein Terrorist, der sein Vaterland verleumdet, oder zumindest jemand, der Propaganda im Auftrag der Terroristen produziert. Der einzige Ort, wo wir uns hätten begegnen können, wäre ein Verhörzimmer gewesen oder ein Winkel zwischen zerstörten Hauswänden. Doch nach dem Putschversuch nahmen die Ereignisse in der Türkei einen solch seltsamen Lauf, dass selbst der vaterlandstreueste Mann noch zum Vaterlandsverräter werden konnte.

Dieser hier wurde vor ein paar Monaten, während er ein Befehlsträger war, der Menschen tötete oder töten ließ, aus der Armee entfernt. Mit der Begründung, der Gülen-Organisation anzugehören. Ein Haftbefehl wurde erlassen und er, so erzählt er, flüchtete nach Europa, indem er durch die Ägäis schwamm. Ich empfand Mitleid.

Unsere Unterhaltung wurde tiefer und düsterer. Es verblüffte mich, dass er nicht davor zurückscheute zu erzählen, was er erlebt hatte. Vor diesem Hintergrund fragte ich ihn, ob er einen Menschen getötet hatte. Erst dachte er etwas nach, dann sagte er: „Nein, ich selbst nicht. Aber ich habe meinen Soldaten Befehle gegeben.“ Ich versuchte so zu wirken, als wäre das alles nur eine belanglose Unterhaltung, aber ich musste an die ISIS-Kämpfer denken, mit denen ich im Norden Syriens Interviews geführt hatte, nachdem sie von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) gefangen genommen worden waren.

Wo warst du in der Putschnacht?

Ich erinnerte ihn daran, dass ich als Journalist in der Türkei gearbeitet habe, während er als Offizier arbeitete. „Wenn du in Nusaybin hinter den Barrikaden gestanden wärst, hätte ich vermutlich den Befehl gegeben, dich zu erschießen“, sagt er. Lustlos drehe ich mir eine Zigarette.

Mein Gesprächspartner verbirgt weder seine Enttäuschung noch seine Wut darüber, dass er der Tätigkeit für die Gülen-Organisation beschuldigt wurde. Als Offizier wurde er mit herausragenden Aufgaben betraut. Eine davon erledigte er in der Nacht des 15. Juli 2016.

„Wo warst du in der Putschnacht?“, frage ich ihn.

„Ich saß gerade beim Essen mit meinen Soldaten, als ein Anruf kam. Mir wurde der Befehl erteilt, die Putschisten zu stellen.“ Es sei ein Sonderbefehl an ihn gewesen. Er sollte die putschenden Soldaten festnehmen, die den Auftrag hatten, den Präsidenten Erdoğan an der Marmaraküste zu entführen. „Wir schnappten sie uns. Sie sahen mitleiderregend aus.“

Vorwurf der Gülen-Mitgliedschaft

Dann erzählt er, wie nur vier Monate später ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde, weil er auf seinem Telefon die App ByLock installiert hatte. Die Anklagebehörden behaupteten, die App werde von den Gülenisten zur verschlüsselten Kommunikation genutzt. Tausende von Menschen wurden dafür bestraft, verloren ihre Jobs oder wurden wegen Terrorverdacht angeklagt, weil sie diese App genutzt hatten. Später stellte die Justiz dann fest, dass das Installieren der App als Beweismittel nicht tauge. Es wurde sogar festgestellt, dass der Verdacht der Justizbehörden zur Schädigung Unbeteiligter geführt haben könne. Einer dieser Unbeteiligten war er.

Die Ermittlungen kommentiert er indigniert: „Wenn ich ein Gülenist wäre, hätte ich wohl kaum den Sonderbefehl erfolgreich ausgeführt.“

Dann kommt er auf das zu sprechen, was er in Deutschland erlebt hat. Seit fünf Monaten warte er auf seinen Aufenthaltstitel. Dass er ihn im Unterschied zu anderen geflohenen Militärs und Juristen nicht bekommt, erklärt er damit, dass er eben nicht zur Gülen-Bewegung gehöre. Tatsächlich habe die Bewegung ein paar Gemeindemitglieder zu ihm geschickt und ihn aufgefordert, sich ihren Strukturen einzufügen. Er habe das abgelehnt.

Über Nacht zum Vaterlandsverräter

Er hat noch viel erzählt und viele Vorwürfe erhoben. Doch aus Angst um seine Familie, die noch in der Türkei lebt, möchte er nicht, dass ich darüber schreibe.

Ich gebe dem Ex-Soldaten die Hand und wir ziehen uns auf unsere Zimmer zurück, die in unterschiedlichen Gebäuden der Aufnahmeeinrichtung liegen.

Es war eine seltsame Begegnung und noch immer bin ich davon sehr erschüttert. Die Menschen, für die er „gekämpft“ hat, konnten ihn über Nacht genauso zum Vaterlandsverräter erklären wie mich.

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