: „Eine Art politischer Blutrache“
Die Veröffentlichung der Notizen Willy Brandts zu Herbert Wehners Rolle bei seinem Sturz birgt in der Sache nichts Neues / Eine verunsicherte SPD und einige christdemokratische Strategen ■ Von Matthias Geis
Berlin (taz) – Nichts Neues und kein Ende. Auch die gestern in der FAZ vollständig veröffentlichten Notizen Willi Brandts zu den Umständen seines Rücktritts 1974, haben den von Brigitte Seebacher- Brandt geäußerten Verdacht, der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Wehner habe den Sturz Brandts in Zusammenarbeit mit der DDR betrieben, nicht erhärtet, dafür neuerlich transportiert.
Der Streit geht weiter: zwischen Frau Seebacher-Brandt und ihrer Partei, zwischen SPD und Union. Die redaktionelle Hoffnung der FAZ jedenfalls, man wolle mit dem Abdruck der Brandt-Notizen „zur Entspannung der Diskussion“ beitragen, hat sich nicht erfüllt. Das ist in erster Linie wohl Frau Seebacher-Brandt zuzuschreiben. Nachdem ihre unentwegten Versuche, Willy Brandt posthum zum Deutschnationalen umzudichten, bislang eher auf gebremstes öffentliches Interesse stießen, hat sie mit der Komplott-Theorie zum Brandt-Sturz zweifellos einen spektakulären Coup gelandet. Prominentestes Opfer: Willy Brandt. Der Historiker Arnulf Baring, dem Brandt bereits in den frühen achtziger Jahren Einblick in die jetzt zugänglichen Notizen gewährte, bedauert, daß mit den jüngsten Veröffentlichungen „eine ganz besondere Schwächephase Brandts“ neuerlich thematisiert und damit nicht Wehner, sondern Willy Brandt abgewertet werde.
In den 43seitigen handschriftlichen Aufzeichnungen, in denen Brandt seinerzeit die Phase seines Rücktrittes vom 24. April bis zum 6. Mai 1974 beschrieb, mutmaßt er über einen möglichen „Zusammenhang“ zwischen der Rolle, die der mächtige Fraktionschef Wehner bei seinem Sturz spielte, und dessen Kontakten zu Honecker. Was von Seebacher-Brandt suggeriert wird, erscheint in Brandts Notizen jedoch durchgängig in Frageform: „Gibt es Zus. Hang mit Hon. (Ecker)-Kontakten?“ — „Hat 'die andere Seite' mit vergifteten Berichten gespielt?“
Sonderlich quellenkritisch jedoch hat sich die gelernte Historikerin Seebacher-Brandt nicht verhalten. Statt in Rechnung zu stellen, daß Brandt, nach seinem Rücktritt frustriert und verletzt von den offenkundigen Intrigen Wehners, den Verdacht auch ins eher Abenteuerliche weiterspann, hat sie ihn vor dem Hintergrund der schwächlichen Indizien nicht relativiert, sondern pointiert. Nicht auszuschließen, daß sich die Witwe dabei von der vermeintlich einmaligen Chance blenden ließ, ihren bisherigen interpretatorischen Versuchen zum Leben und Wirken Willy Brandts die Krone aufzusetzen: Brandt, der von der nationalen Mission beseelte Sozialdemokrat, gestürzt in einem von Wehner (SPD) und Honecker (SED) geschmiedeten Komplott. Sinnfälliger jedenfalls hätte Frau Seebacher ihre Obsession, Brandt aus den unwürdigen Reihen vaterlandsloser Gesellen herauszulösen und diese zugleich zu willfährigen Handlangern des SED-Regimes zu degradieren, kaum weitertreiben können.
Als „eine Art politischer Blutrache“ hat Heiner Geißler in der Süddeutschen Zeitung die Aktivitäten von Brigitte Seebacher- Brandt bewertet. Zweifellos kommt der SPD das Mißverhältnis zwischen dem pompösen Verdacht und den schwächlichen Indizien zugute. Die Unterstellungen sind zu abstrus, Frau Seebachers Motivlage zu offenkundig obskur, als daß eine ernsthafte Verteidigung überhaupt notwendig erscheint. Doch ganz ohne Beschwörungen kommt die SPD nicht aus: „Noch ein Stück geschlossener und auch entschlossener“ gehe die SPD aus der unerfreulichen Witwen-Attacke hervor, bekundet Parteichef Scharping.
Dennoch ist unverkennbar, daß die SPD hochsensibel reagiert. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß die jüngste Debatte das Ansehen der beiden Partei-Ikonen Brandt und Wehner tangiert; in den (Über-)Reaktionen kommt auch die Verunsicherung der SPD über das bisherige Glanzstück ihres außenpolitischen Wirkens, die Ostpolitik, zum Vorschein. Noch bei den unsinnigsten Anlässen, wie jetzt im Falle Seebacher-Brandt, rächt sich, daß die Partei aus Angst vor den demagogischen Potentialen der Union einer offenen Debatte über die Verdienste und Fehler ihrer Ostpolitik ausweicht. Wehner, ein Einflußagent der Stasi? — Noch an den falschesten Stellen reagieren Sozialdemokraten wie ertappte Delinquenten.
Es müßte der Union schon sehr viel besser gehen, als es derzeit der Fall ist, wenn sie das aktuelle Spektakel nicht in wahlkämpferischer Hinsicht zu nutzen versuchte. Etwas bleibt hängen: Die SPD, außenpolitisch ein unsicherer Kantonist, Schirinowski in Moskau, Rot- Grün in Bonn ... Noch scheut sich die CDU/CSU, einen Wahljahr- Untersuchungsausschuß zum „Fall Brandt/Wehner“ zu installieren. Geißler erinnert an die ostpolitischen Leichen im eigenen Keller. Doch weniger prominente Unionisten basteln derzeit an einem besonderen Coup gegen die SPD: Frau Seebachers Übertritt zur CDU.
Kommentar Seite 10
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