piwik no script img

Ein wahres Schattendasein

In England hat Reiseliteratur Tradition. Hierzulande wird sie nicht ernst genommen. Ein Plädoyer für den Reisebericht zwischen authentischer Reportage und fiktionaler Erzählung  ■ Von Martin Hager

Berlin: Ein junger Mann betritt eine Buchhandlung. Er erkundigt sich nach Reiseliteratur. Die Verkäuferin fragt, wo er denn hin will, um ihn auf das entsprechende Sortiment an Reiseführern verweisen zu können: Kunst-Reiseführer, Abenteuer-Reiseführer, Individual-Reiseführer, Reisen-mit-Kind- Reiseführer. Der Mann will aber gar nicht verreisen. Er will lesen.

London: Die Frage nach Reiseliteratur führt zu einem Regal, dessen Bücher nicht nach Ländern, sondern nach Autoren geordnet sind: Bruce Chatwin, James Fenton, Norman Lewis, Jan Morris, Eric Newby, Jonathan Raban, Paul Theroux etc.

Im Gegensatz zu Deutschland wird in Großbritannien der zweite Teil des Begriffs „Reiseliteratur“ ernst genommen. Nicht daß es hierzulande keine guten Reiseberichte gäbe, es kennt sie nur kaum einer. Zugegeben, daß Goethe in Italien war, ist allgemein bekannt. Auch Heinrich Böll hätte Irland als Thema der diesjährigen Frankfurter Buchmesse nicht gebraucht. Ob Alfred Andersch, der über Spitzbergen geschrieben hat, mit Norwegen geholfen wäre, ist schon eher wahrscheinlich. Das „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ vermerkt lapidar: „Andersch, Alfred, „Hohe Breitengrade“. Letzte Auflage 1989, z.Zt. vergriffen, Datum der Neuauflage unbestimmt.“ Seine Romane zählen zur Standard-Schullektüre und sind zum Teil in verschiedenen kommentierten Ausgaben erhältlich, die Reiseberichte dagegen liegen mangels Nachfrage nur noch in Bibliotheken vor. Ihr Wert ist, scheint es dem interessierten Beobachter, eher museal.

Ob es für ein literarisches Werk schlimmer ist, nicht mehr gedruckt oder als Pflichtlektüre in den Schulunterricht aufgenommen zu werden, sei dahingestellt. Literarische Reiseberichte führen hierzulande jedenfalls ein beklagenswerten Schattendasein. Literarische Reiseberichte zählen – abschätzig formuliert – als „Bastardliteratur“. Sie sind weder zweckgebundene Information wie ein Reiseführer noch freies Spiel der Phantasie wie ein Roman. Der Autor eines Reiseberichts ist auf die faktische Basis seiner Erzählung verpflichtet, sie muß auf eine tatsächlich unternommene Reise zurückgehen. Andererseits sind seiner subjektiven Interpretation des Gesehenen und Erlebten keine Grenzen gesetzt. Am besten ist der Text, der auf faktischer Basis beruht und sich dennoch aller stilistischer Techniken fiktionalen Erzählens bedient, der wörtliche Rede einsetzt und Spannungskurven aufbaut, der es also vermag, authentische Erfahrung eindrucksvoll zu inszenieren. Wenn der britische Reiseerzähler Bruce Chatwin in seinem Buch „In Patagonien“ über seine Suche nach den Ursprüngen eines Stücks Faultierhaut aus dem Kuriositätenkabinett seiner Großmutter berichtet, ist das spannender als eingehende Beschreibungen noch so schöner Gletscher – worauf er ohnehin verzichtet.

Es ist ein interessantes Phänomen, daß die Beschreibung eines Raums in einem Roman – skizziert durch wenige Worte – eindringlicher und nachvollziehbarer ist als die seitenlange Beschreibung einer wunderschönen Landschaft in einem Reisebericht. Das hat mit der menschlichen Kognition zu tun. Die Fiktion des Romanautors wird zur Fiktion beim Leser. Der Reisende hat jedoch die Realität vor Augen und unternimmt den – zum Scheitern verurteilten – Versuch, diesen visuellen Eindruck in Sprache zu transformieren. Der Leser wiederum geht von der ebenfalls sinnlosen Hoffnung aus, dieses Stück Sprache in ein der Realität entsprechendes Bild zurückverwandeln zu können. Ein simpler Selbstversuch beweist: Es bleibt sich letztendlich gleich, ob ich mir einen bunten, viereckigen Hund vorstelle oder einen realen Fluß, den ich nur von einer Beschreibung kenne. Beides ist möglich, beides bleibt eher vage.

Der Romanautor will Atmosphäre vermitteln. Wenn das mit Hilfe einiger „telling details“ gut gemacht ist, merkt der Leser nicht, daß er von dem Raum eigentlich gar keine konkrete Vorstellung hat, sondern nur von einigen Details, die bestimmte, eindringliche und klare Assoziationen wecken: „Wie sie aufwacht, ist es Abend, und die saubere weiße Wand, auf die sie zuerst sieht, ist nur noch wenig hell.“ (Die Szene spielt im Krankenhaus.)

In der akkuraten Landschaftsbeschreibung kann die Stärke von Reiseberichten also nicht liegen. Hier hilft höchstens Verfremdung weiter, also weg von der Nüchternheit des Sachtexts hin zur Dichte des Romans: „Die Bocage ist jener südwestliche Teil des Departements Calvados, wo... sich das Land hinterm Meer plötzlich zu Hügeln aufwirft, wo die sanfte Dünung der Normandie durcheinandergerät und der Horizont hinter sich türmenden Strauchmauern verschwindet.“ Der Text stammt aus einer Geo-Reportage. Hier wird kein konkret-exaktes Bild gezeichnet, sondern ein Bild, wie die Landschaft auf den Betrachter, den Autor wirkt.

Gute Reiseberichte, das hat Bruce Chatwin mit „In Patagonien“ und „Traumpfade“ bewiesen, bewegen sich an der Schnittstelle von authentischer Reportage und fiktionaler Erzählung. Natürlich war Chatwin in Patagonien und in Australien, und natürlich basieren die Bücher auf den dort gemachten Erfahrungen. Begleitet wurde er aber in Australien nicht von Arkady Volchok, wie es in den „Traumpfaden“ heißt, sondern von Salman Rushdie, der sich im Jahr 1983 noch frei bewegen konnte. Chatwin brachte aber, um die zentrale Botschaft von der Qualität der ursprünglichen Kultur der Aborigines glaubhaft vermitteln zu können, jemanden, der in diese Kultur eingeweiht war. Also erfand er den in Australien gebürtigen Russen Volchok, einen Weißen, der mit europäischer kultureller Tradition und Kenntnissen aboriginaler Mythologie aus erster Hand aufwarten konnte.

Auch Alfred Andersch blendet in seinem Reisebericht über einen Sommeraufenthalt auf und um Spitzbergen die Tatsache völlig aus, daß der Anlaß dieser Reise eine Filmexpedition war. Ein Kamerateam existiert nicht, auch nicht seine Frau Gisela Andersch, die doch für die Fotos in dem Buch verantwortlich zeichnet; statt dessen eine gewisse Asa, die nicht zur Crew des Schiffes gehört, das Andersch gemietet hat, sondern als Fotografin agiert und in einer persönlichen, aber nicht näher definierten Beziehung zum Ich-Erzähler steht. Andererseits lautet der vollständige Titel des Buches „Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze. Mit 48 Farbtafeln nach Aufnahmen von Gisela Andersch“. Und auf der letzten Seite des Buches findet sich eine kurze „Notiz“, die auf den tatsächlichen Kontext der Reise verweist, eine „Film-Expedition des Deutschen Fernsehens“. Damit ist der Bericht eingerahmt von zwei Aussagen, die seine Fiktionalität klar zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist aber nicht die exakte Wiedergabe der äußeren Realität, sondern die Nachempfindung einer inneren Wahrheit. Wenn es dazu notwendig ist, das Kamerateam zu streichen und Gisela durch Asa zu ersetzen, dann muß das eben sein.

Wichtig für das Funktionieren der beschriebenen Verschmelzung von Fakt und Fiktion ist der Status, den ein Text hat, weniger der tatsächliche Authentizitätsgehalt. Reiseberichte haben, wenn sie als solche gelten, faktischen Status, das heißt, der Leser akzeptiert ihre Authentizität – im Gegensatz zu der von Münchhausens oder Gullivers Reisen. Kaum jemand verschwendet einen Gedanken daran, ob man sich wirklich an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen kann (was möglicherweise ein Fehler ist).

Nicht alle Reiseberichte sind in demselben Maße fiktionalisiert wie die oben genannten. Dann wäre es mit dem Status der Authentizität bald vorbei. Aber der Prozeß der Vertextung ist auch einer der Veränderung, von den Sinneseindrücken über die Notizen vor Ort zum fertigen Bericht. Aus dem Reisenden im fremden Land wird schließlich der Autor am heimischen Schreibtisch, und der schafft den Ich-Erzähler in der Geschichte.

Literarische Reiseberichte sind Kunstwerke. Bei deutschen Verlagen laufen sie aber unter der Rubrik Sachliteratur. Das ist schade und irreführend. Der sogenannte Tatsachenroman, wie Truman Capotes „Kaltblütig“, ist auch kein Sachbuch, selbst wenn sich viele Kritiker auf dessen Wahrheitsgehalt gestürzt haben – und ihn dann in Frage stellen konnten.

Um auf die vorher genannten Autoren zurückzukommen: Weder lese ich Chatwin, weil ich erdkundliche Informationen über Patagonien oder Australien brauche, noch Andersch als Vorbereitung auf eine Spitzbergen-Tour. Ich lese die Bücher, weil ihre Autoren gut schreiben können, weil sie sensibel sind für ihre Umgebung und weil sie interessante Geschichten erzählen über das, was sie sehen, was sie denken, was die Orte ihnen zu sagen haben. Sowenig sich die Bedeutung eines Geschichtswerks darin erschöpft, Quelle zum Verständnis der Gegenwart zu sein, so wenig liegt der Sinn eines Reiseberichts in der Sachinformation über die besuchte Gegend. Dafür gibt es seit 150 Jahren den Baedecker und eine mittlerweile unüberschaubare Zahl ähnlicher Produkte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen