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Ein schwimmendes Schauspiel

Ihre Arbeitsstätte, die Semperoper, steht schon unter Wasser. Aber ihr Haus in Kleinzschachwitz will die Familie Zühlsdorf partout nicht aufgeben

Für die Kinder ist Schlammfahren ein Vergnügen, vom schulfrei ganz abgesehen

aus Dresden MICHAEL BARTSCH

„Ich lag in meinem Garten bei Kleinzschachwitz …“ – So beginnt das bekannteste Gedicht des Dresdner Dichters Thomas Rosenlöcher. Rosenlöchers Garten gegenüber dem Pillnitzer Elbufer aber animiert derzeit nicht gerade zu poetischen Träumen. Er gleicht ebenso einem hässlichen braunen Swimmingpool wie der der Familie Zühlsdorf in der Nachbarschaft. Dietmar Zühlsdorf, Chefmaskenbildner in der Semperoper, und seine Frau und Kollegin Karla sind in ihrer Wohnung geblieben. Sie wollen auch weiter bleiben. Obwohl im Stadtteil schon am Freitagmorgen um vier Uhr die Evakuierung begonnen hat.

Bei den Zühlsdorfs im Garten steht das Wasser am Freitagnachmittag 20 Zentimeter hoch. Mit Eimern, Lappen und Schaufeln haben sie seit der Nacht um ihren Keller gekämpft und sich mit den Nachbarn abgewechselt, die ebenfalls geblieben sind. „An Schlaf war kaum zu denken in den letzten beiden Tagen“, sagt Karla Zühlsdorf durchs Telefon. Gestern am frühen Nachmittag mussten sie den Kampf aufgeben. Das Wasser dringt von unten durch den Sandstein. Das Kellerinventar füllt nun den Hausflur in der ersten Etage. Katze und Tochter waren zuvor in einen sicheren Stadtteil gebracht worden.

Mittlerweile haben die Zühlsdorfs und ihre Nachbarn gar keine andere Wahl mehr als auszuharren. 500 Meter vom normalen Elbufer entfernt sind sie vom Wasser eingeschlossen. Nur einige unentwegte barfüßige Radler mit Anwohnerausweis werden von den Sicherheitskräften nach Kleinzschachwitz, Laubegast oder Tolkewitz am linken Elbufer noch durchgelassen. Wenn sie durchkommen.

Ob sie im Innenministerium fünf Kilometer elbabwärts von den Zühlsdorfs wissen? Die Evakuierung sei abgeschlossen, sagt Ministerialdirigent Eike Springborn in der Lagebesprechung. Von insgesamt 11.960 Betroffenen in Sachsen ist die Rede, weniger als befürchtet. Im Raum Chemnitz kehren die Bewohner zurück, und in Pirna oberhalb Dresdens wurde vorerst nur der „kleine“ Evakuierungsplan verwirklicht.

„Abgeschlossene Evakuierung“ bedeutet für die Zühlsdorfs ein Ausharren ohne Strom und Lebensmittelversorgung. Lediglich das Trinkwasser läuft, das man allerdings nur abgekocht genießen sollte. Der Campingkocher muss herhalten. Karla Zühlsdorf hat sich mit Vorräten eingedeckt. „Gespenstische Stille herrscht hier“, meint sie in einem Anflug von Galgenhumor. Seit sie den Keller aufgeben mussten, sinkt die Stimmung jedoch spürbar.

Wo die Zühlsdorfs sonst Weltstars für ihre Bühnenauftritte schminkten, geht es nicht weniger gespenstisch, aber weitaus lautstärker zu. Auch in Semperoper und Staatsschauspiel wurden die Keller aufgegeben. Gerade sollte die Hinterlassenschaft der entfesselten Weißeritz abgepumpt werden, da drückt die mit Verzögerung steigende Elbe nach. Ein schleichender, aber unaufhaltsamer Griff nach der Altstadt, während der überquellende Fluss sich vor vier Tagen nicht um seine neue Kanalisierung durch die Stadt scherte, sondern sich stürmisch sein uraltes Naturbett bahnte. Durch den Hauptbahnhof, quer durch die Kunstmeile der Stadt und am Landtag mündend. „Die neue Spielzeit können wir vergessen“, sagt Dramaturgin Cynthia Schwab vom Staatsschauspiel entnervt. Die Straßen um den Zwinger, den Postplatz und das Schauspielhaus erinnern an Venedig. Niemand weiß, wann die historische Bühnenmaschine von 1913 und die Keller wieder funktionsfähig sein werden. Die Depots der Kunstsammlungen sind zwar gerettet worden, aber unten in der Semperoper hat das Wasser beispielsweise das Notenarchiv und zwei Steinway-Flügel vernichtet.

Cynthia Schwab ist nicht nur wegen des Theaterbetriebs nervlich angekratzt. Tag und Nacht heulen die Sirenen. Hubschrauber und Bundeswehr-Tornados donnern von oben. Die Gereiztheit ist am deutlichsten bei Autofahrern zu spüren, die hektisch nach befahrbaren Wegen suchen. Es ist die Stunde der Radfahrer und der Handybesitzer. In einer Mischung aus Schaulust und Betroffenheit pilgern Radkolonnen an die Stätten der Verwüstung, vor allem an das Elbufer. Willig werden die Anweisungen der Polizei im Allgemeinen befolgt, etwa auf der Augustusbrücke nicht zum Fotografieren stehen zu bleiben. Etwas vom stoischen sächsischen Gemüt ist da spürbar. Die oben im Müglitztal und am Weißeritzlauf hat es schließlich noch viel ärger getroffen. Für Kinder auf ihren Rädern ist Pfützentauchen und Schlammfahren sogar ein ausgesprochenes Vergnügen, vom schulfrei ganz abgesehen.

Noch steht bei einem Allzeit-Höchstpegel von 9,10 Meter die barocke Dresdner Altstadt nicht flächendeckend unter Wasser und bietet daher Neugierigen manches Spektakel. Zum Beispiel den losgerissenen und an der Carolabrücke stecken gebliebenen hundertjährigen Raddampfer „Krippen“. Die ebenfalls losgerissene Johannstädter Fähre hat sich zur Erleichterung des Krisenstabs inzwischen selbst versenkt.

Es gibt aber bei weitem nicht nur Gaffer. Birgit Lehmann zum Beispiel, sonst bei der Gewerkschaft Ver.di beschäftigt, füllt und schleppt seit zwei Tagen Sandsäcke, die man inzwischen vor Kellerfenstern an völlig sicher scheinenden Dresdner Stadtteilen sieht. Ins Gewerkschaftshaus könnte sie eh nur schwimmen, so wie die Redaktion der Sächsischen Zeitung, die seit Tagen in Bautzen produziert wird (siehe das Interview auf Seite 15). Birgit Lehmann hat dabei aber auch das Chaos im Dresdner Rathaus bemerkt, über das zunehmend gemurrt wird. Oberbürgermeister Ingolf Roßberg hat die meisten seiner Angestellten nach Hause geschickt, musste in der Nacht zum Dienstag sogar von Ministerpräsident Georg Milbradt zur Auslösung des Katastrophenalarms bewegt werden. Rettungsdienste arbeiten vielfach spontan und unkoordiniert. Das Krankenhaus Neustadt entschied eigenmächtig über seine Evakuierung. Darüber wird man in der Sächsischen Staatskanzlei inzwischen richtig böse, während die zahlreichen Visiten der Bundesminister und Kanzlerkandidaten eher mit leisem Spott quittiert werden.

Familie Zühlsdorf interessiert der Elbpegel vorerst mehr. Er hat inzwischen über 150 Jahre alte Marken erreicht, die der Besucher des gegenüberliegenden Schlosses Pillnitz bislang ungläubig an dessen Mauern bestaunen konnte. Einen halben Meter sollte er in der Nacht noch zulegen. Das können Karla und Dietmar Zühlsdorf nur noch über ein kleines Kofferradio erfahren. Leerte sich die letzte Batterie, würde es wirklich gespenstisch still.

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