Ein königliches Spiel für Fünfjährige

Vorschulkinder in zehn Kindergärten Leipzigs erlernen das königliche Spiel des Schachs / Wissenschaftliches Projekt zur Förderung individueller Begabungen und künstlerisch ästhetischer Entwicklung der Kinder / Ehemaliges Volksbildungsministerium hatte kein Interesse  ■  Von Samira Sachse

Leipzig (adn) - Die Puppenwagen und Holzbausteine sind in der nächsten Stunde für die fünfjährigen Knirpse out. Nach dem Frühstück starten die 14 Mädchen und Jungen der Gruppe5 des Leipziger Kindergartens Oststraße 128 zu einer Reise in das Königreich von Dame, Turm und Bauer. Jede Figur hat für die Kinder ihre eigene Geschichte. Geschichten, die ihnen Frau Beltz alle 14 Tage mitbrachte. Martina Beltz ist ihnen seit September 1989 Schachlehrerin, Spielgesellin und Geschichtenerzählerin zugleich.

Gemeinsam erlernten Nicole, Anne, Christian und Janine in den vergangenen Monaten das Einmaleins des Figurenbewegens. „Es ist schwierig und spannend. Klug muß man sein, und es gibt Kämpfe. Du kannst auch viele Abenteuer erleben.“ Hitzig erzählt Christian vom Schach, während er einen Bauer in ein schwarzes Karree hüpfen läßt.

Alle Vorschulkinder in diesem und neun weiteren Kindergärten Leipzigs erlernen auf solch lockere Art das Spiel der Denker. Damit unterstützen sie indirekt ein wissenschaftliches Projekt, welches auf Programme zur individuellen Begabungsentwicklung bei Kindern zielt. Geistiger Vater dieses Vorhabens ist Prof. Dr. Hans-Georg Mehlhorn, Dozent an der Musikhochschule Leipzig. Nach umfangreichen wissenschaftlichen Vorbereitungen stellten er und sein kleines Team 1988 praktische Untersuchungen in vier Kindergärten der Stadt an. Eltern und Erzieherinnen standen diesem Vorhaben sehr aufgeschlossen gegenüber, erinnert er sich.

Begabungen seien nicht angeboren, jedoch die Entwicklungsvoraussetzungen dafür, erläutert der Professor. Indem verschiedene Tätigkeiten mit fachmännischer Hand angeboten würden, erhielten die von Kind zu Kind verschiedenen Voraussetzungen für Begabungen spezielle Entwicklungsanreize. Neben dem Vertrautmachen mit dem Schachspiel und einem ersten Kontakt mit Computern gehören vor allem Beschäftigungen dazu, die die künstlerisch -ästhetische Entwicklung der Vorschulkinder fördern. Im darstellenden Spiel lernen sie ihren Körper und seine Ausdrucksmöglichkeiten kennen. Beim bildkünstlerischen Gestalten ist viel Phantasie gefragt. Tanz verlangt Einfühlungsvermögen, Beweglichkeit...

„Schade ist nur, daß nicht alle Kinder mit allen Tätigkeiten in Berührung kommen.“ Prof. Dr. Mehlhorn kennt die Grenzen des Unternehmens. Zu wenig „Macher“ - jene, die die Kinder beschäftigen - konnte er bisher finden. Außerdem sei die Finanzierung unklar. Mängel, die dem neuen, vielerorts noch in den Kinderschuhen steckenden Bildungswesen nicht gerade zugute kämen.

Eine Zwischenauswertung des Projektes ergab, daß die betreuten Kinder in ihrer geistigen Reife und der Ausprägung künstlerischer und intellektueller Fähigkeien ihren Altersgefährten weit überlegen sind. Ein Erfolg, der im Herbst 1989 beinahe zum Aus für das Projekt geführt hätte. Das ehemalige Volksbildungsministerium konnte sich für diese scheinbare Extravaganz nicht erwärmen. Doch es geht hier nicht um „Extrawürste“ für hochbegabte Kinder, sondern es sollen alle Mädchen und Jungen erreicht werden. Phantasie, Kreativität und Selbstbewußtsein waren zu lange Extravaganzen.