Ein ganz gewöhnliches Weihnachtsfest: Im Ofen Hühner, im Radio Brahms
Joachim Lottmann, 52, ist halbherziger Weihnachtsverachter. Vor dem zweiten Advent schreibt er über Höhepunkte eines gewöhnlichen Familienfestes.
Ich saß und sagte nichts dazu. Alle wollen, dass ich zuhöre, das ist nun mal meine Rolle! Dabei soll ich ein sehr lebhaftes Kind gewesen sein. Doch schon nach wenigen Jahren begann es, dass ich stumm wurde, jedenfalls am Mittagstisch, so wie jetzt. Genug! blaffte ich, und sagte, ganz Ehemann: Ich habe zu tun, entschuldige bitte.
Ich ging zur Bibliothek. Eine Liste mit vierzehn Leuten, die ein Buch bekommen sollten, ich rückte die Lampe näher. Wundervolle, an Köstlichkeiten reiche Bücklers-Bibliothek. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Das Tier im Menschen. Friedebert von Gotthold: Pastorenwitze. Grillparzer: König Ottokars Ende. Hermann Hesse: Märchen. Gesamtausgaben von: Hebbel, Geibel, Grabbe, Reuter, schließlich die Marx/Engels-Gesamtausgabe vom Ostberliner Aufbau-Verlag. Ganz unten: der Zupfgeigenhansl in allen Ausgaben: Rororo, Fischer Taschenbuch, Volk und Wille Verlag mit Schweinsleder und englischer Broschur und Wiener K. und K. Verlag in Dünndruck und Seide.
Diedrich klingelte.
Nach einigem Zureden nahm er die Namensliste und koordinierte sie mit den etwa zweihundert Büchern im Regal. Die Weihnachtsgeschenkfrage war damit erledigt.
Annerose, als Ehefrau, rief zum Abendessen. Wir setzten uns, Kerzen brannten, flambierte Artischocken und gegrillte Zwerghühner brutzelten auf dem festlich-gediegen geschmückten Tisch. Im Radio leise Brahms. "Hoho, das kann sich sehen lassen, was, Diedrich", tönte ich, mehr zu Annerose gewandt, und griff zur Serviette.
Wir ließen uns nichts entgehen und brachten es auch noch fertig, simultan zum Kauen, Beißen, Schlucken ein flüssiges Gespräch zu unterhalten. Erst das gekochte Ei, dann das Marmeladenbrot, die Marzipankugeln, der Früchtejoghurt, die süße Zuckermilch, die Kuchen und Torten, die selbst gemachte Dickdruck-Pizza, die fettigen Pfannkuchen und die Negerküsse zum Nachtisch. Dazu tranken wir zwei Kannen Kakao, aus guter Fettmilch gemacht, Diedrich nahm noch eine H-Milch mit Erdbeergeschmack extra.
Spätestens bei den Früchtejoghurts begann das Gespräch zu stocken, es wurde immer schwerfälliger, bis Diedrich nur noch einzelne Brocken über Bundesligafußball hervorbrachte. Mit geröteten Augen fragte er mich, ob Schalke schon einmal Pokalsieger gewesen sei. Sogar der Abschied wurde zu einem anstrengenden Unternehmen. Indem ich den Kopf hob, um Diedrich in die gequollenen Augen zu sehen, drückte ich einen Satz heraus - den letzten, der mir an diesem Abend noch gelang, nämlich: "Wolltest du nicht gehen?" Diedrich nickte, wobei ihm das Kinn auf die Brust fiel, dann tastete er sich den Korridor entlang bis zur Wohnungstür. Da angekommen, standen wir uns unschlüssig gegenüber, Diedrich hob den rechten Unterarm, um eine Geste zu vollführen, vielleicht wollte er mir auf die Schulter klopfen, doch das Ärmchen hing schon wieder wie ein ausgestopfter Jackenärmel am prallen, gemästeten Körper. So ging er dann ohne Abschied.
Ich saß nun mit Annerose allein in der Küche, und wir rauchten eine Zigarette und tranken Kaffee. Mein Arbeitsgewissen meldete sich, und ich nahm mir vor, ins andere Zimmer zu gehen und etwas für die Uni zu schreiben. Zwei Tassen Kaffee würden mich wiederaufrichten.
Gesagt, getan, tatsächlich erwies sich Annerose als tolerante Idealpartnerin: Gern wollte sie mich arbeiten lassen und sich selbst mit Malen beschäftigen.
Ich schrieb den ersten Satz, da kam Omigosh. Ich verrammelte die Zimmertür. Prompt klopft und zerrt es, Omigosh ruft mich, ich halte die Hände vor meine Ohren. Dann ist es vorbei, aber ich muss in meinem Zimmer bleiben, kann mir nun doch keinen Kaffee kochen.
Die Minuten vergehen, ich schreibe so gut wie nichts, werde immer müder, lege mich schlafen. Die Tür knallt, davon wache ich auf. Omigosh und Annerose sind weg, es ist null Uhr sechzehn. Ich gehe in die Küche, esse noch einen der geisttötenden Joghurts, werde trotzdem wach, lese dann noch, bevor ich einschlafe: Hemingway, Grillparzer, Gantenbein von Frisch.
Um fünf Uhr morgens weckt mich Annerose, will die neueste Omigoshgeschichte erzählen, aber ich lasse sie nicht.
Dann ist Weihnachten, der 24. Wir schlafen bis vier Uhr nachmittags. Seit zehn Uhr wache ich immer wieder auf, flüchte sofort erneut in den Schlaf, sobald ich an Weihnachten denke. Völlig blöd übrigens, denn was ist Weihnachten anderes als eine lustige Abwechslung.
Annerose und ich gingen zusammen auf die Straße, die schwarz und leer war wie nach dem Atomschlag - ein platter Vergleich, ich weiß, der meinem geistigen Zustand aber angemessen war. Annerose erzählte nun, während wir spazieren gingen, die Omigoshgeschichte, was mich wütend machte, sodass wir uns wieder stritten und Annerose mit bösen Augen damit drohte, auf der Stelle in Tränen auszubrechen.
So brachen wir den Spaziergang ab, winkten ein Taxi und ließen uns zu den Verwandten fahren. Im Taxi, hinten sitzend, sprach ich geschwollen und so, dass es der Fahrer hören konnte, von Solidarität, und Annerose stimmte seltsamerweise zu.
Wir versöhnten uns im Rücken dieses Taxifahrers, der beim Zahlen etwas von einem Scheißweihnachten sagte.
Nun stand das Schwerste bevor. An der Wohnungstür öffnete Eckart. Wäre es Mami gewesen mit mütterlicher Festfreude, ich hätte ihr die Zunge abgebissen. Dann nahm ich mir vor, mich rücksichtslos abzureagieren, den Familientyrannen zu spielen, und zwar frohen Herzens. Das schien mir eine akzeptable Lösung zu sein: das Weihnachten hier zum historischen Skandalweihnachten zu machen, von dem man noch in vielen Jahren sprechen würde, ein Weihnachten à la Beckett, das schien mir sinnvoll. Es kam dann nicht dazu, man aß Ente, Gans, Puter, Geier und gesprenkelte Fledermäuse, trank Wein, weißen und roten, ausgelesenen, spätgelesenen und gerieselten, sprach flapsig und progressiv über dies und jenes, silberne Lüster zu Hunderten im alten Rittersaal, große Edeltanne mit einem Zentner Lametta im Hintergrund. Der Tisch zu viert: Mami, Eckart, ich und, gleich rechts von mir, der Farbfernseher.
Zwei oder drei Stunden ging es nun um mich. Ich sagte viel, was ich nicht verraten sollte, was aber nicht honoriert wurde. Es endete mit einem kleineren Krach, Mami weinte, ich verließ die Wohnung, Eckart schloss sich mir an, Mami schniefte die Tränen weg, kam mit an die Wohnungstür und meinte zuversichtlich: Bis morgen dann, was wir bestätigten.
Eckart und ich gingen spazieren, wurden auf halbem Wege von Regen und Schnee überrascht, wurden so nass, dass wir verärgert den Mund hielten. Mit nassem Haar, so stellte ich von der Seite fest, sah Eckart trotzig und ungeschickt aus, eine seltsame und nicht einzuordnende Type. Schweigend, wie Würste in unseren großen Mänteln liegend, fuhren wir zu Stephan Ohrt, es war 23.30 Uhr. Natürlich war da niemand, und ich dachte zum ersten Mal, aus der Haut fahren zu müssen.
Dann war er aber plötzlich doch da, und wir traten ein in die so wohltuende, lichte Pöseldorf-Welt des Stephan Ohrt. Nun konnte alles gut werden. Ich sah mich um, legte den Mantel ab, entdeckte, nach einiger Zeit, in einem Nebenzimmer meine Frau Annerose, die sich ehrlich über das Wiedersehen freute.
Swen, Stephans dümmlicher Freund, war mir, als dümmlicher Freund, angenehm.
Ich schenkte ihm eine Flasche Portwein und fühlte mich wie ein Herrenreiter. Felix kam, dann Nici, die mir einen unkontrollierten spitzen Schrei entlockte, dann Diedrich. Diedrich, im Trenchcoat, sah zufrieden und angestrengt aus, wie ein am Flughafen abgeholter Geschäftsmann.
Er trug ein Bordcase und einen etwas größeren Koffer, Nici hängte sich, fast könnte man sagen: liebevoll an seinen Arm. So gingen sie vor uns her, als wir unten waren. Ja, und oben feierten wir Weihnachten, beschenkten uns und redeten durcheinander wie eine alte Clique. Nett, aber belanglos. Eckart saß entsprechend gelangweilt im Sessel und fand alles ein wenig kindisch.
Annerose schwankte beim Gehen, suchte immer meine Nähe, verfolgte mich bis zur Toilette und wollte mit mir schlafen. Ich musste ihr sagen, dass es hier nicht ginge. Nici war sehr nett, als ihre Art von Weihnachtsgeschenk. Felix präsentierte sich als Wunderknabe, Stephan als der liebe Stephan, auch das ein Weihnachtsgeschenk? Und ich lief fröhlich immer im Kreis herum. Diedrich erzählte Donald-Duck-Geschichten, begann, als er mein Gesicht dazu sah, mit Eckart eine Diskussion. Es wurden viele Fotos gemacht, und alle waren reizend zueinander.
Nur Eckart, als Eckart, und Swen, als dümmlicher Freund, standen abseits.
Dann legte ich etwas an Tempo zu, und Annerose, Stephan, Felix und ich machten uns einen vergnügten Abend im Madhouse mit André Rademachers "Jackets". Stephan küsste Felix, worüber sich dieser, der 16-jährige Wunderknabe, mit Annerose und mir aussprechen musste. Neunzig Minuten lang besprachen wir den Komplex Kuss: den ersten Kuss, den Zungenkuss, den Kuss unter Homosexuellen, den Kuss zwischen Mutter und Sohn, den Kuss zwischen Annerose und Felix. Da stoppte das Gespräch, Annerose wollte Felix nicht küssen, Felix stieg aus, und wir fuhren nach Hause.
Am nächsten Morgen, am 25. 12. 1977, stand ich früh auf und brachte Diedrich mit Eckart zusammen. Aus gutem Grund: Es ging um mich.
Demnächst schreibe ich ausführlich darüber.
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