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Ein anständiges Leben

Randständige Menschen stehen in Ocean Vuongs zweitem Roman „Der Kaiser der Freude“ im Mittelpunkt. Besonders nahe kommt man denen nicht – trotz der einfühlsamen Sprache des Autors

Shootingstar unter den Poeten: Ocean Vuong Foto: BFA/action press

Von Sidney Kaufmann

Die Sängerin Dua Lipa bekennt sich gleich zu Beginn des Gesprächs als Fan: „I was putting down a list of authors who I would dream to talk to – you were at the top.“ Ihr Gast: der viet­namesisch-US-amerikanische Autor Ocean Vuong. Und auch Oprah Winfrey begrüßt ihn in der aktuellen Folge ihres berühmten Bookclubs voller Begeisterung: „Let me introduce you to this genius man!“

Ocean Vuong hat es geschafft – in der zumeist eher publicityfernen Literaturszene ist er zum Shootingstar unter den Poeten geworden. Seit dem Erfolg seines millionenfach verkauften Debütromans „Auf Erden sind wir kurz grandios“ (2019) hat er viele hoch dotierte Preise gewonnen und eine Creative-Writing-Professur an der New York University (NYU) angenommen.

Sein Auftreten ist stets von großer Sanftheit geprägt. Nichts scheint ihn unberührt zu lassen. Er erzählt von der Entschleunigung beim handschriftlichen Schreiben langer Texte und greift ganz intim seine Familiengeschichte auf. Wenn er Gedanken ausführt, beginnt seine Stimme manchmal sogar zu zittern; als würde er in dieser kaputten Welt von einem Dämon der Empathie geplagt werden.

In genau dieser Welt will Vuong für andere schützende Stimme sein: ein trostspendender Ruhepol. Schreiben versteht er als „act of care“, einen Akt der Fürsorge. Die ungebrochene Ernsthaftigkeit seines Selbstverständnisses und Verantwortungsgefühls fällt auf – gerade, wenn man an den eher Pathos-skeptischen deutschsprachigen Raum gewöhnt ist. Vermutlich ist es das auratische Bild des Autors, der in jedem Wort nichts als das authentische Empfinden sucht, was viele begeistert.

Nachdem sein Debüt vor allem autobiografisch geprägt war, richtet sich der Blick in seinem nun bei Hanser erschienenen zweiten Roman auf die Ränder der amerikanischen Gesellschaft. „Für diejenigen, die uns ernähren“, so die hehre Widmung von „Der Kaiser der Freude“, den Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl aus dem Englischen übersetzt haben.

Die Geschichte spielt 2009 – während der ersten Amtszeit Obamas – in der fiktiven Kleinstadt East Gladness in New England. Auf einer Brücke am Stadtrand wird der 19-jährige Protagonist Hai im letzten Moment von der 84-jährigen Grazina von seinem Suizidversuch abgehalten.

Er zieht bei ihr ein, und schnell entsteht eine Freundschaft. Hai begleitet Grazina in ihrer Demenz, vor allem wenn sie von Erinnerungen an ihre Flucht aus Litauen während des Zweiten Weltkriegs gequält wird. Daneben arbeitet er in dem Fast-Food-Restaurant HomeMarket. Hier gehört er zu einer Handvoll Menschen, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, sich durch schlecht bezahlte Arbeit über Wasser zu halten.

Es ist der Alltag des HomeMarket-Teams, der die Grundlage des Romans bildet. Die Schichten, Pausen und Herausforderungen. Das aus Pragmatismus geborene Miteinander. Die Solidarität. Aber auch die fast beiläufig eingenommenen Opioide.

Ocean Vuong: „Der Kaiser der Freude“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Anne-Kristin Mittag. Carl Hanser Verlag, München 2025, 528 Seiten, 27 Euro

Die melancholischen Sprachbilder, für die Vuong bekannt ist, waren bereits in seinem Debüt in Fülle vorhanden, flackerten auf zwischen den Fragmenten einer zerbrechlichen Lebensrealität. In „Der Kaiser der Freude“ geraten sie jedoch schief und werden bis ins Rührselige überstrapaziert: „Als hätte sich die eingerostete Waage der Welt schließlich doch zugunsten der Barmherzigkeit geneigt.“ Vielleicht handelt es sich dabei um Akte der Fürsorge. Doch gerade in Dialogen wirken sie oft eher wie bemüht geistreiche Sentenzen: „Du willst Schriftsteller werden, und du willst von einer Brücke springen? Das ist so ziemlich das Gleiche, oder?“

Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen des HomeMarket haben jeweils eine spleenige Eigenheit. So träumt BJ von einer Musikkarrie­re, und Sony, Hais Cousin, begeistert sich für den Amerikanischen Bürgerkrieg. Sie scheint wenig anderes auszumachen. Denn fast jedes Mal, wenn sie vorkommen, wird ihre Eigenheit aufs Neue hervorgehoben. Dieses Wiederholen ist ermüdend und hinterlässt den Eindruck, bei den Figuren handele es sich um bloße Skizzen.

Die Erzählstimme unterbricht gerne Szenen, um noch einmal das Offensichtliche zu erklären. Auch wenn das Erleben der Figuren eigentlich für sich selbst spricht. Etwa bei der Beschreibung des Gesundheitswesens: „Aber wohin kam sie jetzt? Sie kam an einen Ort, der zwar Freiheit verhieß, sie aber einzig durch einen von Mauern und Schlössern umfriedeten egalitären Raum ermöglichte.“ Solche plakativen Passagen erinnern an Paulo Coelho. Vielleicht steckt dahinter aber auch nur ein verborgener Kniff Ocean Vuongs: „Warum eigentlich kam es ihm, immer wenn er etwas Wichtiges sagte, vor, als würden ihm die Worte eingegeben, aus dem Pfuhl sämtlicher je gesehener schlechter Filme am Grund seines Schädels?“

Vermutlich ist es das Auratische Vuongs, der nichts als authentisches Empfinden sucht, was viele begeistert

Schnell wird klar: Niemand aus dem Team macht Karriere oder kann dem Hamsterrad des Niedriglohnsektors auf eine andere Weise entkommen. Indem Vuong in seinem Text ein Narrativ des Gleichbleibens entwickelt, will er sich gegen die Überzeugung wehren, dass nur Auf- oder Abstiegsgeschichten erzählenswert sind. Und sich so der tatsächlichen Lebensrealität vieler Menschen annähern. In einem kürzlich erschienenen Gespräch mit der Autorin Jia Tolentino nennt Ocean Vuong dies „transformation without change“.

Diese Einstellung geht im Roman aber mit einer sonderbaren Sympathie für die Tugend der Bescheidenheit und Akzeptanz einher: „Am Leben zu sein und zu versuchen, ein anständiger Mensch zu sein und nichts Großes oder Gewaltiges draus zu machen, das ist das Allerschwerste.“ Zu diesem Schluss kommen die Figuren in ihrer verzweifelten Lage. Seltsam schwankt der Text an solchen Stellen dann zwischen Einfühlsamkeit, Trost und sozialromantischer Relativierung. Ob es tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist, anständig zu sein und sich einfach immer zu arrangieren, bleibt fragwürdig.

Ebenso fragwürdig ist, ob es dem Roman damit trotz seiner Länge gelingt, seinem Anliegen der Darstellung prekärer Lebensentwürfe gerecht zu werden. Vielleicht reichen bloße Einfühlsamkeit und Trost auch schlicht nicht aus, um sich zu interessanter Literatur zusammenzufügen.

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