Kommentar: Ein Zeichen gesetzt
■ In Chemnitz bieten 6.000 Menschen 400 NPD-Anhängern die Stirn
„Sind die Ossis noch zu retten?“ – diese Frage mußte man sich in den letzten Wochen und Monaten angesichts des anschwellenden Trends zum Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern stellen: 12,8 Prozent für die DVU in Sachsen- Anhalt; Berliner Schulklassen, die sich aus Angst vor Übergriffen nicht mehr ins Umland trauen; Umfrageergebnisse, die bescheinigen, daß 22 Prozent der ostdeutschen Jungwähler rechtsextrem wählen wollen. Wo sind die Ostdeutschen, die den Mund aufmachen und sich offen gegen Rechtsradikalismus aussprechen? Zum Beispiel in Chemnitz.
6.000 Menschen sind am Samstag auf die Straße gegangen und haben mit einer Menschenkette gegen Ausländerhaß demonstriert. Sie boten den 400 NPD-Anhängern, die sich gleichzeitig versammelten, die Stirn. Sie demonstrierten, daß eine Mehrheit die menschenverachtende Ideologie der rechtsextremen Partei verurteilt.
In Sachsen ist die NPD auf dem Vormarsch: Die Mitgliederzahl ist seit 1996 von 300 auf 1.200 gestiegen. NPD-Aufmärsche gab es zuletzt in Leipzig und Berlin, wo jeweils mehrere hundert Teilnehmer rassistische Parolen wie „Deutsche Arbeitsstellen für deutsche Arbeiter“ verbreiteten. Bei den bevorstehenden Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern (1998) und Sachsen (1999) will die NPD genauso wie die DVU in die Landtage einziehen. Das Wählerpotential ist vorhanden.
Vorhanden ist aber auch ein Potential gegen die rechtsextreme Welle. Die Menschenkette in Chemnitz könnte ein Symbol dafür sein, daß in Ostdeutschland eine breite Masse hinter demokratischen und bürgerrechtlichen Prinzipien steht. Ein Zeichen, das den Aufbruch hin zu einer zivilen Bürgergesellschaft markieren kann. Seit dem Schock von Sachsen-Anhalt scheint sich in vielen ostdeutschen Städten ein Widerstandspotential zu bilden. Bisher war davon an der Oberfläche noch nicht allzuviel zu sehen, aber mit der Demonstration von Chemnitz könnte sich das geändert haben.
Für jeden einzelnen heißt das, auch im Alltag den Mund aufzumachen, Fremden gegenüber offen zu sein und sich vor Ort für deren Rechte einzusetzen. Im Kampf gegen Rechtsradikalismus genügt es eben nicht, sich auf die Politik zu verlassen – schon gar nicht in Wahlkampfzeiten, wo sich selbst die sogenannten Volksparteien mit fremdenfeindlichen Parolen hervortun. Heike Spannagel Bericht Seite 6
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