: Ein Sieg, den man beweisen kann
■ „Die Tür in einen dunklen Raum aufgestoßen“: Der Intellektuelle Jan Philipp Reemtsma beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Gewalt
Man muß nicht unbedingt Anhänger magischen Denkens sein, um festzustellen, daß die Begegnung mit roher Gewalt sich geradezu ankündigte in Jan Philipp Reemtsmas Texten. In dem 1991 von ihm herausgegebenen Band „Folter“ entwickelt er in ruhigem Ton seine Überzeugung, daß auch die moderne Gesellschaft – was immer sie von sich selbst glauben mag – noch von der Gewalt zusammengehalten werde, und sei es nur von deren Androhung. „Nicht jede Gewalttat muß begangen werden“, heißt es da dunkel, „wenn man mit dem bloßen Verweis auf die anderswo schon begangene Tat sein Ziel erreichen kann.“ In diesen „Zitaten der Folter“ müsse man lesen, um zum „repressiven Kern in integrativen Strategien“ vorzudringen. Die „Tür in einen dunklen Raum“ werde durch diese Drohung aufgestoßen, „von dem man weder abschätzen kann, wie groß er ist, noch was er birgt, und der Schrecken kann groß genug sein, auch wenn man die Schwelle gar nicht zu übertreten braucht“...
Zwar hat Reemtsma sich immer wieder energisch gegen alles Raunen von der „strukturellen Gewalt“ gewehrt, das den Unterschied zwischen „du läßt mich nicht ausreden“ und einem Elektroschock vernebelt. Aber eine echte Grenzziehung zu Gewaltherrschaften vergangener Epochen will er der Moderne auch nicht gestatten – darin folgt er Adorno ebensowie in jüngerer Zeit dem Soziologen Zygmunt Baumann und deren Modell der „Kippfigur“, dem zunehmenden Umschlag der Zivilisation in die Barbarei.
Ein Gutteil der theoretischen Anstrengungen, die das 1984 von ihm ins Leben gerufene und finanzierte Hamburger Institut für Sozialforschung unternimmt, richtet sich darauf, der Bundesrepublik die Abschottung der Nazi-Massenmorde als isolierte „Vorgeschichte“ zu verbauen.
Af die Kritik, die seine Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht (1995/96) von links wie von rechts erfuhr, reagierte er mit einem Essay im Kursbuch, in dem ebenfalls wieder das Gewaltpotential der Gesellschaft in Friedenszeiten mit dem des Ausnahmezustands ins Verhältnis gesetzt wird – je gewaltbereiter der Normalzustand, desto weniger traumatisierend ist der Krieg für die Soldaten; der Vergleich zwischen Vietnamkriegsveteranen und deutschen Weltkriegssoldaten belegt es.
Für die eigene Biographie hat er verständlicherweise bislang die Vorstellung vom Bruch mit der Vergangenheit, von der Stunde Null, vorgezogen. Zwei Söhne aus der ersten Ehe seines Vaters Philipp Fürchtegott Reemtsma waren im Krieg gefallen; von dem Zigarettenfabrikanten aus Hamburg- Blankenese selbst hieß es, er habe als Hermann Görings Finanzier dem Reichsmarschall erhebliche Summen zugeschanzt. Der Erbe Jan Philipp studiert Literatur und Philosophie, vermacht dann, noch auf die Zustimmung der Testamentsvollstrecker angewiesen, 350.000 Mark dem Schrifsteller Arno Schmidt, verkauft schließlich zusammen mit seiner Mutter die Reemtsma-Anteile für 350 Millionen Mark an Tchibo. Weil Reemtsma der Meinung ist, daß gesellschaftliche Konflikte so weit wie möglich entstaatlicht werden sollten, hat er 1987 versucht, den Besetzern der Hafenstraße zu helfen – ein Vorhaben allerdings, das an der Halsstarrigkeit des Hamburger Senats scheiterte. Auch unter den Besetzern gab es Mißtrauen: Was will denn der Kapitalist, sich ein besseres Grundstück mit Elbblick verschaffen?
Als Intellektueller wird er erst seit einigen Jahren wahrgenommen; Reichtum und Ernst kann man sich partout nicht zusammen vorstellen. Als Philologe ist er übrigens gänzlich unprätentiös; was Stephen King zu Gewalt zu sagen hat, ist ihm ebenso wichtig wie das Geheimnis der Gothic Novel im Vergleich zum gänzlich unverblümten Metzeln in Horrorfilmen, von denen er etliche kennt. In seinem Buch über den Boxer Muhammad Ali, „Mehr als ein Champion“ (1995), heißt es: „Intellektuelle haben berufsbedingte Probleme mit dem Ausdruck von Aggressionen. Jeder Sieg auf dem Papier ist einer, den man nicht beweisen kann. Außerdem werden Intellektuelle dafür bezahlt, Komplexitäten darzustellen. Ein Boxkampf ist einfach; wenn einer nach zehn Sekunden noch nicht wieder auf den Füßen ist, gibt es auch keine hermeneutischen Probleme.“ Die Frage, warum er dann trotzdem Muhammad Ali verehrt und nicht etwa den Simplicissimus Mike Tyson, beantwortet er sich mit der etwas nebulösen Bewunderung für den Typus des „dissoziierten“, genialischen Individuums, das keine kollektiven Bindungen, sondern nur noch Größenwahn kennt.
Beim Lesen von Reemtsmas Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, in dem ihn die Entführer viereinhalb Wochen lang festhielten, verspürt man neben dem Schrecken und dem Terror seltsamerweise auch eine Art Erleichterung: Wovor er ewig Angst gehabt hatte, das war nun passiert. Der dunkle Raum hinter der Tür war durchmessen, das heimliche Gewaltpotential hatte offen die Zähne gebleckt. Er, Reemtsma, hatte sich gewehrt, er hatte nicht die Nerven verloren, sondern im Gegenteil verfolgt, was zu verfolgen war, und er hatte gemerkt, daß er alles andere war als „dissoziiert“: er war jemand, an dem eine Familie hing; für den ganze Polizeistaffeln in echter Sorge (wenn auch nicht immer mit hundertprozentigem Schliff) auf Trab waren und dessen Schicksal jetzt von Millionen mit Anteilnahme verfolgt wird, obwohl er Geld hat. Mariam Niroumand
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