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Ein Rundgang durch GrimmaDDR-Flair und neue Deutsche

Die Schönheit der Stadt Grimma liegt im Engagement ihrer Bewohner*innen.

In der alten Spitzenfabrik findet das taz.meinland Sommerfestival statt Foto: Paul Toetzke

Grimma taz | Grimma – das klingt irgendwie nach Märchen. Nach Luftschlössern und Drachen, Lebkuchenhäusern und Zauberern. Das hellgelbe Bahnhofsgebäude in Grimma oder Krimma, wie die Einheimischen sagen, hat wenig Märchenhaftes. Rot sieht es aus. Der Putz blättert von den Wänden, Graffiti überdecken den Belag darunter, Türen und Fenster sind mit schweren Holzplatten verriegelt.

Trotzdem ist der Bahnhof in Betrieb – seit zwei Jahren gar mit barrierefreiem Bahnsteig. Nur hatte die Deutsche Bahn bei der 200.000 Euro teuren Investition übersehen, dass die Züge am Gleis gegenüber halten.Vor dem Bahnhofsgebäude, zwischen Fleischerei Richter und der Spielothek, warten Jugendliche ungeduldig auf den Schulbus.

Gleich gegenüber, im Bahnhofspark, sitzen zwei Männer bei einer Flasche Sternburg zusammen. „Morjen treffn wa uns spädor, Frank, dann is es nüsch ma so heiß“, sagt der eine. Frank nickt stumm. Hinter ihnen scheint die Sonne auf eine unauffällige Gedenktafel. „Ewiges Gedenken den für ihre sowjetische Heimat gefallenen Soldaten“ steht darauf, davor der rote Stern als eine Art Kerzenständer aus Eisen. Die Kerze fehlt.

Ein sowjetischer Panzer, der hier früher stand, wurde schon 1992 entfernt. Ein paar Meter weiter macht eine Mutter mit ihren vier Kindern Picknick. Die zwei Jungen bewerfen sich gegenseitig mit Stöcken, bis einer von beiden weint und die Mutter den Übeltäter auf Arabisch ankreischt. Über die Karl-Marx-Straße gelangt man, den Berg hinab, ins Stadtzentrum. Wären da nicht diese Straßennamen, das Sowjetdenkmal oder der türkise Trabi, der die Straße hinuntertuckert, würde man wohl nicht darauf kommen, dass man sich in der ehemaligen DDR befindet.

Das Sommerfestival

Am 24. Juni möchten wir mit Ihnen in Grimma die offene Gesellschaft feiern. Neben Spielen, Fußballturnier und leckerem Essen können Sie ab 13 Uhr an drei runden Tischen anregende Diskussionen zu den Themen „Wie geht Nazifrei?“, „Journalismus heute“ und „Was bedeutet meinland für Sie?“ führen. Zu den geladenen Gästen zählen unter anderen Grimmas Oberbürgermeister Matthias Berger, „Kreuzer“-Chefredakteur Andreas Raabe und Panter Preis Gewinner Tobias Burdukat. Für die Festivalmusik sorgen „Der Geräusch“ und „WickedWaste“. Wer über Nacht bleiben möchte, kann auf der angrenzenden Wiese ein Zelt aufschlagen und mit uns bis tief in die Nacht feiern und diskutieren.

Wann, wo, wie? 24. Juni, Einlass ab 12 Uhr, Alte Spitzenfabrik in Grimma. Eintritt frei. Bitte anmelden unter: www.taz.de/grimma

Großzügige Fachwerkhäuser, Backsteingebäude und Villen mit Holzverzierungen und knallgrünen, sauber gepflegten Gärten schmücken die Straßenseiten. Viele der Gebäude stammen aus dem späten 19. Jahrhundert, ihr Zustand ist meist tadellos.

In der Mittagssonne hat Grimma fast etwas Mediterranes. Nur fehlen die Menschen auf den Straßen. Siesta im Kleinstadtidyll.Die Ladenzeile, wenn man sie so nennen kann, führt vorbei an einer Videothek, das Mindesthaltbarkeitsdatum der Popcornbecher im Schaufenster datiert auf den März 2013. Die ausgestellten Verpackungen von Spielekonsolen sind ausgeblichen, die Sonne hat über die Jahre offensichtlich ganze Arbeit geleistet.

Alte Heimat im Obstladen

Man passiert einen Tätowierer, der Biker-Kutten anbietet und im Schaufenster eine beachtliche Sammlung an Ketten mit Eisernem Kreuz und Thors Hammer liegen hat. Besonders glücklich sieht der Inhaber nicht aus, „Grimma hat 20.000 Einwohner und vier Tattoo-Studios. Das eine macht uns mit Dumpingpreisen auch die wenigen Kunden noch kaputt“, sagt er.

Kleine Einzelhändler mit Kleidung für die ganze Familie, eine Parfümerie und ein paar Obsthändler zieren die Gasse, die irgendwann auf den Busbahnhof führt. Vor und in einem der Obstläden ist es besonders geschäftig: Vor allem bei den Geflüchteten im Ort ist dieser Laden beliebt, weil er neben dem Üblichen auch Lebensmittel aus der alten Heimat im Sortiment hat.

An kalten Tagen dient der Bürgertreff am Busbahnhof schon mal als Wartehalle. Dieser Ort der Begegnung, ein Mehrgenerationenhaus, bietet kulturellen Austausch, Migrierten wird bei anfallendem Papierkram geholfen, Rentner kriegen von Neuntklässlern Computer und Internet beigebracht.

Anpacken für Grimma

Steffi Selzer, die Leiterin des Bürgertreffs „Alte Feuerwehr“, kriegt gerade einen Brief in die Hand gedrückt, als sie von den verschiedenen Projekten und Unternehmungen des Hauses berichtet. Ihre Augen werden groß, die Mundwinkel gehen hoch. So sieht ehrliche Freude aus. Eine junge Frau mit Kind, der sie schon länger unter die Arme greift, hat endlich eine Wohnung bekommen. „Das ist hier in Grimma gar nicht leicht, günstiger Wohnraum ist auch hier knapp“, sagt ­Selzer.

Manche haben zweimal alles verloren und sind trotzdem wieder auf die Beine gekommen.

Sie macht sehr viel im sozialen Bereich, wird unterstützt von Ehrenamtlichen, eine von ihnen deckt gerade die Tische mit Baklava und Nüssen für den interkulturellen Treff. Auch als Grimma 2002 und 2013 vom Hochwasser der Mulde heimgesucht wurde, war Selzer da. Da für die Leute, da zum Anpacken: „Manche haben zweimal alles verloren und sind trotzdem wieder auf die Beine gekommen. Das ist ‚Auferstanden aus Ruinen!‘“, sagt sie.

An die Albträume der jüngsten Vergangenheit erinnern Hochwassermarkierungen. Stumm fordern sie präventive Veränderung. 2018 soll der Hochwasserschutz entlang der Mulde fertiggestellt sein.

Was machen, wenn du alleine bist?

Im Bürgertreff kocht ein Mann mit weißem Schnauzer türkischen Tee. Muammer Akhan heißt er. 2000 sei er selbst als Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland gekommen, erzählt der 50-jährige: erst Köln, dann Chemnitz und schließlich Grimma.

Er erklärt, dass es beim Interkulturellen Treffen um ganz praktische Hilfe für die Geflüchteten in Grimma gehe: Wohnungssuche, Amtsgänge, Asylgesuche. Begegnung und Kennenlernen, betont er dann, seien aber genauso wichtig: „Was willst du denn sonst machen, wenn du alleine bist? Wenn du den ganzen Tag nichts zu tun hast?“, fragt er, wohl aus eigener Erfahrung.

Akhan freut sich darüber, dass er heute auf der anderen, der helfenden Seite stehen darf, Stütze sein kann. Sein Lächeln, das er zwischen Erzählungen über Grimma einschiebt, verrät das. „Deutschland ist ein bisschen spät dran“, sagt er und meint eine engagierte Integrationspolitik, „aber besser zu spät als gar nicht!“ Dann holt er seine zwei Töchter von der Bushaltestelle vor dem Bürgertreff ab. Sie sind acht und sieben Jahre alt, ihre Schulranzen fast so groß wie sie selbst. Eine von ihnen sagt: „Ich spreche drei Sprachen: Türkisch, Kurdisch und Deutsch“.

„In Grimma kann man sich wohlfühlen“

So vielfältig wird es auch auf dem taz-Sommerfestival, das in der Alten Spitzenfabrik am gegenüberliegenden Muldeufer Grimmas stattfinden wird. Ausgehend vom Schwanenteich folgt man dem Wallgraben am Stadtzentrum vorbei. Dieser zieht sich akkurat durch den Ort und mündet nach der Friedrich-Otto-Straße zwischen den Sportanlagen in der Wurzner Straße.

Pumas, Schnee-­Eulen und Waschbären zählten zu seinen Weggefährten.

Die Straße ist einseitig von Linden, Flieder- und Wacholdersträuchern gesäumt. Frühlingsduft zieht durch die kleinstädtischen Gassen und Straßen. „In Grimma kann man sich wohlfühlen“, erklärt eine kürzlich zugezogene Mutter mit Kind. „Der Kleene kann och super rumtollen.“

Ein weiteres Überbleibsel sozialistischer Gemeinschaftsgefühle prangt in großen Lettern an der Oberschule : „Immer bereit zum Lernen – Für Frieden und Völkerverständigung“. Auf der anderen Straßenseite strömen Jugendliche aus dem Stadion der Freundschaft. Ein paar von ihnen necken sich auf den Parkbänken, zwei weitere lassen sich über die spärlichen Freizeitangebote in Grimma aus.

Ein Hogwarts in Grimma

Hinter den Sportanlagen folgt man der S11 über die Brücke gen Osten Richtung Mutzschen. Die Brücke gibt den Blick auf das sattgrüne Muldeufer mit blumenpflückenden Kindern und die nahe, aufwendig restaurierte Pöppelmannbrücke frei.

Nach dem angrenzenden Parkplatz des Unteren Bahnhofs Grimma steht im Grünen von Frühlingspollen umweht Magic Philipps alte Wohnstätte, die Alte Spitzenfabrik: Ein junger Mann, der aussieht wie Harry Potter und dessen Zauberei einst in Las Vegas von den Magiern Siegfried und Roy preisgekrönt wurde. Mit seinen Eltern lebte er einige Jahre in dieser ausrangierten Fabrik, sein eigenes „Hogwarts“.

Pumas, Schnee-­Eulen und Waschbären zählten zu seinen Weggefährten. Schon als Teenager führte ihn seine Illusionskunst um die Welt. Wo Magic Philipp heute lebt, ist jedoch offen. Der Spirit dieser magischen Hallen aber garantiert ein zauberhaftes taz-Sommerfestival in Grimma.

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