piwik no script img

Ein Reigentanz zum Knüppeltakt

Für zünftige, heimatliebende Chaostage braucht es Punx, Polizisten, Journalisten und Politiker? Wenn es doch nur so einfach wäre

von KLAUS FRICK

An klugen Ratschlägen hat es in all den Jahren nie gefehlt. „Gebt den Punx eine große Wiese in einem Park und zehntausend Liter Freibier, dann saufen die fröhlich und stören eigentlich niemanden“ – das war wohl der klügste von allen. Nur hielt sich leider kein Mensch daran, und so erlebte Hannover gleich mehrfach Chaostage: 1982, 1983 und 1984 erfolgte die erste „Trilogie“, nach längerer Pause führte 1994, 1995 und 1996 die zweite „Trilogie“ eine junge alte Tradition weiter, und im Sommer 2000 setzten die Punx noch ein Sahnehäubchen auf den Chaoskuchen, der regelmäßig in der Nordstadt der Leinemetropole verspeist wurde.

Die Spielregeln für die Chaostage blieben immer dieselben, wenngleich sich die Methoden und optischen Höhepunkte gelegentlich unterschieden. Letztlich tappten aber die drei Hauptgruppen – Punx, Polizisten und Journalisten – jedes Mal aufs Neue in ihre eigenen Fallen. Und während die drei Worte Party, Love und Parade für Berlin eine gewisse Dreieinigkeit bilden, reichte es bei Hannover nur zu Chaos, Schutt und Asche.

Zum Leidwesen von Pädagogen, Polizisten und Politikern hielt sich die Punkszene nie an irgendwelche Regeln. Nach kurzer rebellischer Phase in den späten Siebzigerjahren sollten die Punx bitte schön sich als kleiner Teil der Jugendkultur doch irgendwo bequem einrichten. Viele folgten diesem Gedankengang, aber eben nicht alle.

Als „Geschwür im Angesicht der Gesellschaft“ verstanden sich viele, und so trotzte man Ende der Siebziger- und zu Beginn der Achtzigerjahre hohnlachend dem Spruch „Punk is dead“, setzte den gesellschaftlichen und musiktheoretischen Erwartungen ein konsequentes „Punk’s not dead“ entgegen. Punk ging gewissermaßen in die Offensive, das Outfit wurde derber: Springerstiefel, Nietenlederjacken und aggressive Frisuren ersetzten das zeitweilig an Kunststudenten erinnernde Outfit der späten Siebzigerjahre, aus dem eher harmlosen „Schüttelpogo“ wurde der harte „Stiefelpogo“.

Punk als Generalangriff auf die Gesellschaft, keine herumlungernden Jugendlichen also. Kein Wunder, dass die ersten Punktreffen der frühen Achtzigerjahre in Deutschland zuerst ein Riesenpaß für die beteiligten Punx und dann recht schnell ein Riesenstress für Bürger und Polizei wurden. Im Ruhrgebiet trafen sich 1981 plötzlich hunderte von Punx. Mit Bierdosen und gewollt „asozialem Benehmen“ machten sich die Angehörigen der in Deutschland immer noch brandneuen Jugendkultur ausgerechnet in den Geschäftszentren von Duisburg oder Dortmund, Wuppertal oder Gelsenkirchen breit.

Absehbar die Folgen. Geschäftsleute riefen um Hilfe, weil ihre Umsätze litten; die Medien schrieben über den „gefährlichen Mob“. Die Polizei räumte mit Knüppeleinsätzen die Innenstädte und legte fleißig so genannte Punkerkarteien an. Und als 1982 diese Punkerkarteien bekannt wurden, rief der Punkaktivist Karl Nagel nach Hannover zum „ersten Chaostag“. Der Rest? Geschichte.

In der Folge wurden die Geschehnisse in gewisser Weise sehr berechenbar. Was dem Besucher des Musikantenstadls das rhythmische Händeklatschen zu gesungenen Volksweisen ist, wurde den Besuchern der Chaostage recht schnell das rhythmische Hämmern von Polizeiknüppeln auf Plexiglasschilder. Und den fröhlichen Volksweisen ebenjener Musikkultur entsprechen beim Punk eben das Prasseln von Steinen, das Klirren zerschmissener Bierflaschen und der entschlossene Ruf „Bulle, halt’s Maul!“ – so ein Stück der Punkgruppe Boskops aus Hannover.

Gerne trinkt der chaossuchende Punk an der Leine sein Bier, gerne zeigt sich die Polizei mit Reiterstaffeln, Räumpanzern, Wasserwerfern und Hubschraubern bürgernah. Die Presse als dritter Beteiligter spielt stets mit. Bunte Haare geben gute Bilder ab, angreifende Polizei ebenfalls.

1982 folgten achthundert Punx dem Ruf nach Niedersachsen, 1983 waren es rund anderthalbtausend Bunt- und Kurzhaarige, und 1984 versammelten sich gut zweitausend Punx und Skins aus halb Europa in der Stadt an der Leine. Danach herrschte Sendepause, die Szene leckte die Wunden, und Hannover versank im kollektiven Vergessen.

In den Jahren danach rief die Punkszene jeder zweiten deutschen Stadt irgendwann zu so genannten Chaostagen auf. Punkausflüge nach Westerland auf Sylt gehörten ebenso zum Bild wie die „Ordnungstage“ in Lindau am Bodensee, das Osterdosensuchen im schwäbischen Göppingen oder die diversen Picknicks, die nach dem Vorbild der Punktreffen in Edinburgh in deutschen Parkanlagen veranstaltet wurden.

Ganz zu schweigen von der Musikszene, die einen großen Teil der Punkaktivisten absorbierte. Aber dieser Teil von Punk unterschied sich zu allen Zeiten nur in puncto Musikgeschmack von den Angehörigen anderer Musikkulturen. Was dem Schlagerfreund das saubere Aussehen und die klaren Melodien seiner Künstler sind, bedeuten dem Punkmusikfan zerrissene Hosen und verzerrt klingende Gitarren. Wo der Fan von Heavymetal oder Deutschrock à la Wolfgang Petry gerne in Stadien pilgert, um sich seine Dosis Lebenseinstellung abzuholen, lässt sich der Punk seine Lieblingsmusik gerne in Jugendzentren und den wenigen verbliebenen Autonomen Zentren um die Ohren schlagen. Die Lederjacke und die bunten Haare wurden zur Eintrittskarte in eine etwas anders aussehende Jugendkultur, vergleichbar der Perücke und der roten Knollennase bei Karnevalssitzungen oder dem schwarzen Anzug in der Staatsoper. Klassisches Punkbrauchtum wurde gepflegt, in dem man sich gerne auf „alte Zeiten“ besann und sich auf 1977 oder 1981 berief.

Zu welch interessanten Höhepunkten sich die Chaostage aufschwingen konnten, belegte erst die zweite „Trilogie“. Als „das Schlimmste“, was seiner Karriere hätte passieren können, bezeichnete angeblich Ministerpräsident Gerhard Schröder die Chaostage von 1994. „Auf Steinen und Containern klebte das Blut“, titelte die lokale Presse; weltweit avancierte Hannover über die Medien zu einer Stadt, in der eine „Orgie der Gewalt“ gefeiert werden konnte.

Spätestens nach 1994 wurden die Medien zum wichtigsten Bestandteil der Chaostage. Schon von Anfang an hatten sich die Punx über eine negative Berichterstattung geradezu gefreut. Jemand, der sich selbst zum Outsider stilisiert, will in den Zeitungen und im Fernsehen auch lesen und hören, dass er von den Bürgern abgelehnt wird. Man kann nicht die Gesellschaft widerlich finden und zugleich von einem gutwilligen Sozialarbeiter durch das Leben begleitet werden. Dann doch lieber ein tüchtiger Hass – was letztlich doch einen Teil des Punkseins ausmacht.

Zieht man allerdings eine nüchterne Bilanz dessen, was wirklich passierte, nimmt alle Übertreibungen der Presse heraus und schaut sich den Polizeibericht an, wird klar, dass es sich 1994 im Prinzip um ein Veteranentreffen gealterter Punx handelte. Man trank gemeinsam Bier, stand auf der Straße herum und erzählte sich Geschichten „von früher“; kein Unterschied also zum Jahrestreffen der deutschen Campingclubs. Die irgendwann mit der Präzision eines Uhrwerks angreifende Polizei wurde als gelungener Partyhappen empfunden und mehr lachend als hassend mit Flaschen, Dosen und Steinen beworfen. Die Imbissbuden in Hannovers Nordstadt dürften einen bombigen Umsatz gemacht haben. Unterm Strich blieb außer einem Dutzend eingeschossener Fensterscheiben und vier demolierten Autos nicht viel als wahre Schreckensbilanz übrig. Dazu kamen natürlich die Verletzten auf beiden Seiten.

In den zwölf Monaten zwischen dem August 1994 und dem August 1995 spielten alle Beteiligten ihre Rolle mit Perfektion: Die Punx trommelten in ganz Europa und in der halben Welt für die Chaostage, die Polizei versprach, Hannover in eine Festung zu verwandeln, und die Medien bereiteten sich wohlig auf den Bürgerkrieg vor.

Den bekamen dann auch alle. Barrikaden brannten, Räumpanzer rückten an, Hubschrauber kreisten über der Stadt, Autos brannten. Die Polizei setzte für ein Wochenende sämtliche Grundrechte außer Kraft, und die Journalistenmeute schrieb sich die Finger wund. Neben Punx nahmen an den diesmal realen Straßenschlachten auch Angehörige anderer gewaltbereiter Jugendgruppen teil, Hooligans, Skinheads oder ausländische Gangjugendliche.

Danach herrschte allseitige Betroffenheit. Niedersachsens Gesetze wurden verschärft, weil Gerhard Schröder seinen Handlungswillen demonstrieren musste. Und die Punx waren bundesweit das neue Feindbild, schlimmer noch als Neonazis.

Für die Medien allerdings waren die Punx das gefundene Fressen schlechthin, weshalb die nächste Runde ausgerechnet im beschaulichen Oldenburg eingeleitet wurde: Wenige Wochen nach den brennenden Barrikaden von Hannover tummelten sich dort gerade mal sechzig Punx, gut vierhundert Journalisten und an die zweitausend Polizisten. Bei einem solchen Aufgebot konnten nicht jene Bilder entstehen, die alle Beteiligten am liebsten gehabt hätten.

Und so standen die Chaostage 1996 und 2000 ausschließlich und fast allein im Zeichen der Medien. Die Punx mobilisierten im Internet, Zeitungen und TV-Kanäle lauerten zumindest 1996 auf die große Schlacht – die ausblieb – und ignorierten zum Ausgleich voriges Jahr das Punktreffen, glaubten stattdessen der Polizei, die behauptete, es finde ohnehin nicht statt. Dass bei einem nicht stattgefundenen Treffen trotzdem einige hundert Menschen verhaftet wurden, hinterfragten nur die wenigsten Berichterstatter.

Wie es aussieht, ist das Thema Chaostage vorerst erledigt. Polizei und Medien haben in Kampfhunden und Neonazis neue Feindbilder, die sich auch gut ins Ausland „verkaufen“ lassen. Vom fröhlichen Brauchtum der Chaostage blieb nichts übrig. Wo sich heute mehr als zehn Bunthaarige im Namen des Punks auf der Straße versammeln, ist sofort die Polizei zur Stelle und verhindert alles durch konsequentes „Weghaften“, wie das entsprechende Fachwort in der Szene heißt.

Für Pogo auf der Straße hat die bundesdeutsche Freizeitgesellschaft nichts mehr übrig. Der hat gefälligst in Gebäuden und auf Openairgeländen stattzufinden, wo angestellte Ordner dafür sorgen, dass sich garantiert keiner so richtig daneben benimmt.

Die Chaostage als Ausdruck eines ganz speziellen Lebensgefühls sind praktisch ausgestorben und finden nur noch dann ihren medialen Niederschlag, wenn die Presse für irgendeine Panne in Deutschland das Wort „Chaostage“ benutzt.

KLAUS N. FRICK, 37, wohnt in Karlsruhe und arbeitet als Redakteur für die Sciencefictionzeitschriftenserie Perry Rhodan

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen