piwik no script img

■ VisionenEin Platz an der Sonne

„Wir sind das Volk der Chipkarte!“ rief Jürgen Dethloff, Vater derselben und Inhaber wichtiger Patente, in den Saal des Berliner Grand Hotels Esplanade. Rund 300 Gäste aus Wissenschaft und Wirtschaft waren Ende Februar zum Chipkarten-Kongreß Multicard '94 angereist. Geladen hatte die Forschungsgruppe Telefonkommunikation der Freien Universität Berlin, mit freundlicher Unterstützung von Siemens, Telekom, Gemplus und anderen in der Branche engagierten Firmen.

Man präsentierte sich und seine „intelligenten“ Lösungen – und hielt Ausschau nach Problemen, die noch nichts davon ahnten, per Chipkarte aus der Welt geschafft zu werden. Chipkarten-Vater Dethloff nutzte seine Festrede, um seine Vision der Kartengesellschaft vorzustellen. Die Ressourcen würden immer knapper, da – so die Analyse – auf „unserem Globus“ bereits mehr als fünf Milliarden Menschen „wie die Ameisen hin und her krabbeln“ und sich die „Masse der Erdbevölkerung in armen Ländern dazu noch am schnellsten vermehrt“. Was tun? Die Mehrheit neu erziehen? Nein, das könne er sich nicht vorstellen. Statt dessen, forderte Dethloff, müßten neue „Ordnungssysteme“ her, um das Tun und Lassen des bürgerlichen Individuums ohne Zwang zu optimieren – indem sie sein „natürliches Vorteilsstreben“ ausnutzen. Schließlich wollen wir doch alle unseren „Platz an der Sonne“! Als „Teil unserer selbst“ kann „die Chipkarte uns allen helfen, das Unvermeidliche leichteren Herzens zu tun oder zu lassen“.

Unser aller Leben ließe sich via Plastikkarte in die richtigen Bahnen lenken. Dezent und effizient! Kontrolle ohne Konrolleure! Hierzulande und weltweit! Die Münchener Firma Oldenbourg Datensysteme etwa startete im Februar ein Projekt „für die sozial schwache Bevölkerung in Mexiko“: acht Millionen Chipkarten als elektronische Bezugsscheine für Milchpulver und Tortillas. Marketingdirektor August Lammersdorf meint, seine Firma sei mit diesem „aktuellen Medium“ in dieser – technisch gesehen – „jungfräulichen Umgebung“ schneller eingestiegen als ursprünglich geplant. „Symbolhaft wollen wir die Karte als Instrument zur Beruhigung der Bevölkerung in den südlichen Gebieten Mexikos nutzen.“

Böte sich da nicht ein weiteres Anwendungsfeld Dethloffscher Visionen? Gratisbezug von Lebensmittelrationen auf Karte für alle, die sich wohlgefällig verhalten.

Nicht doch, sagt Ulrich Lange, der den Kongreß konzipiert hat. „Die Chipkarte darf nicht als Instrument mißverstanden werden, um den Ärmsten der Armen ans soziale Leder zu gehen.“ Schließlich seien „in der Chipkarte phantastische Möglichkeiten der Demokratisierung des Datenverkehrs angelegt“.

Weniger phantastisch waren die Möglichkeiten der Demokratisierung auf dem Multicard- Kongreß angelegt. Man hätte ja gern Vertreter von Verbraucherverbänden und Datenschützer dabeigehabt, beteuerte Organisator Lange. Die wenigen kompetenten Verbraucher seien aber alle terminlich schon ausgebucht gewesen. Und auch Datenschützer hätten als Kongreßredner nicht gewonnen werden können. Doch entsprechende Einladungen, bedauerte einer der anwesenden Datenschützer, seien in den Behörden nie angekommen.

Um wenigstens als Zuhörer dabeisein zu können, hatte man um Sondertarife feilschen müssen. Der reguläre Eintrittspreis lag bei rund 2.000 Mark. Ute Bertrand

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen