Ein Leben als Schornsteinfeger: Allen aufs Dach gestiegen

Der 15. Oktober ist Tag des Schornsteinfegers – aber richtige Schornsteinfeger gibt es nicht mehr, sagt Bernd Müller. Er hat ein Buch über seinen Beruf geschrieben.

Bernd Müller bewahrt in seinem Büro die Erinnerungen an 50 Jahre Schornsteinfeger-Leben Foto: Christian Thiel

Bernd Müller ist ein Spaßvogel. Auf die Frage, wie alt er ist, antwortet er verschmitzt: „Das ändert sich jedes Jahr.“ Aber gut, in diesem Jahr ist er 86 geworden, gibt er lächelnd zu. Jahrgang 1932 also, da hat er sicher viel erlebt? Müller nickt: „Ich bin ein Zeitzeuge.“ Einer, der seit 20 Jahren, seit er Rentner geworden ist, viel aufgeschrieben hat aus seinem Leben. In der Schrankwand seines Büros im Einfamilienhaus in Mahlsdorf – „Bruno Taut hat das Viertel entworfen“ – füllen Ordner mit aufgeschriebenen Geschichten, gesammelten Materialien und Dokumenten ein meterlanges Fach.

Früher hatte Müller keine Zeit zum Schreiben, da stieg er anderen aufs Dach. Er war Schornsteinfeger, 50 Jahre lang. Darüber hat er ein 140 Seiten starkes Buch geschrieben, das er selbstbewusst per eigener Pressemitteilung der taz ans Herz gelegt hat. Denn: „Ich bin einer der letzten Schornsteinfeger, der 50 Jahre nur mit Ruß, Asche, Staub und schädlichen Abgasen zu tun hatte.“

Ein bisschen muss er sich darüber erstmal aufregen: „Die Schornsteinfeger von heute sind doch keine richtigen Schornsteinfeger mehr. Das sind Messtechniker und Energieberater. Die eigentliche Kehrarbeit, wie ich sie kenne und 50 Jahre in Ost-Berlin durchgeführt habe, ist stark in den Hintergrund getreten.“

Es gibt eben keine gewerblichen Backöfen mehr, die ausschließlich mit Kohle beheizt werden. Kaum noch Kachelöfen in den Wohnhäusern. Gas, Öl oder Fernwärme haben sie ersetzt. Umweltfreundlicher als früher – doch dieses Argument gegen die Kohle und die durch sie verursachte Feinstaubbelastung lässt der 86-Jährige nicht gelten: „Ich habe viel Dreck eingeatmet, Rauch und Ruß, aber bis heute nichts an der Lunge.“

Das erste Mal stieg Bernd Müller mit 16 Jahren aufs Dach, als Lehrling. „Das war schön, ich war endlich frei und aus der Schule raus“, erzählt er, „darauf hatte ich nie große Lust.“ Kriegsbedingt durch verschiedene Schulen gewandert, kam er mit 13 auf die Napola, eine Erziehungsanstalt der Nazis, über die er ansonsten nicht weiter sprechen mag. „Ich war Pimpf [Mitglied im „Deutschen Jungvolk“, d. Red.], musste aber nicht in den Krieg ziehen“, sagt Müller. Und ich habe den Bombenkrieg in Berlin erlebt. Deshalb kann ich bis heute kein Feuerwerk leiden.“

„Arbeitsschutz? Ein Ammenmärchen!“

Seine Mutter hat Fotos gemacht, wie er als 16-Jähriger seinen ersten Schornstein besteigt – vier davon sind in seinem Buch zu sehen. In voller Montur steht er auf einem mehrere Meter hohen Schornstein und kehrt den Schacht. Ohne Absicherung, ohne Seil, ohne Schutzgitter: „Arbeitsschutz? Ein Ammenmärchen!“ Das galt selbst dann, wenn ein Schornstein 75 Meter hoch ist. Echt jetzt? Echt! Auch davon hat er Bilder. Doch „so was ist heute verboten“.

„Mit Gunst“: Den Gruß der Schornsteinfeger kennt fast keiner mehr

Vorbei ist die gute alte Zeit der Schornsteinfeger, findet Bernd Müller. Er hat es geliebt, „über die Dächer zu steigen, dabei die Vögel und das Wetter zu beobachten …“ Davon erzählt Müller, der seit 1963 als selbstständiger Schornsteinfegermeister arbeitete, in seinem Buch.

Auch zur Berliner Geschichte hat er publiziert, hat großes Wissen und noch mehr Dokumente angesammelt, man könnte sagen: aus alter Verbundenheit. Müller ist das, was man einen Ur-Berliner nennt. Im Nikolaiviertel geboren, im alten Kern von Berlin, hat er dort bis 1945 gelebt – und auch dessen Zerstörung mit angesehen. Noch vor acht Jahren hat er Führungen durch das heutige Viertel angeboten, das kann er nun aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Aber er hat ja darüber geschrieben. Stadtgeschichte auf die sehr persönliche Art.

Ach, und seine Sammelleidenschaft: Noch zu DDR-Zeiten begann er, Feuerstätten zusammenzutragen, also Öfen aller Art, und stellte sie in Hellersdorf aus. Nach der Wende wuchs die Zahl der Exponate schnell auf über 800, darunter alte Waschkessel, Badeöfen, Kachelöfen, Küchenherde, Sägespäneöfen … 1995 musste er seine Sammlung abgeben. „Mir ging es dabei nicht um Geld“, blickt Müller zurück. „Ich hab alles verschenkt.“ Doch die Objekte, manche bis zu 500 Jahre alt, konnten nicht in Berlin bleiben. „Niemand hat sich dafür interessiert.“ Über die Sammlung hat man sich jedoch in Sachsen gefreut, sie wird in der historischen Brikettfabrik Knappenrode bei Hoyerswerda präsentiert.

Sogar die verschiedenen Arten von Asche und Ruß hat Müller gesammelt, er könnte Vorträge darüber halten (macht er aber nicht). Dafür sprudelt der 86-Jährige wie ein Lexikon, wenn man sich mit ihm unterhält: über die Schornsteinfegergasse auf der Fischerinsel – sie wurde nach dem Krieg abgerissen und mit Hochhäusern bebaut. Über den Gruß der Schornsteinfeger, den kaum jemand mehr kennt: „Mit Gunst“ hieß er.

In voller Montur nach Paris

Wie „Mit Gunst“ wohl auf Französisch klingt? Bernd Müller hatte sich noch zu DDR-Zeiten in den Kopf gesetzt, mit dem Fahrrad nach Paris zu radeln. In voller Schornsteinfegermontur. Er dachte damals, dass es ein starkes Zeichen für Völkerverständigung und Frieden sei, wenn er, der Ost-Berliner, von seiner Heimatstadt – offiziell „Stadt des Friedens“ – nach Frankreich radeln und am Grabmal des unbekannten Soldaten Blumen niederlegen würde. Das klappte auch alles – natürlich erst nach dem Mauerfall, Müller war da 58 Jahre alt. In Paris kehrte er übrigens auch Schornsteine, was sonst?

Bringen Schornsteinfeger eigentlich Glück – und vor allem warum? Ob er den Menschen Glück gebracht hat, weiß Bernd Müller auch nicht so genau. Wie es zu dem Aberglauben kam, kann er sich aber erklären: Schornsteinfeger turnen auf Dächern herum und fallen nicht herunter – von dem Glück will man eben ein Stück abbekommen, indem man sie berührt. Früher bekam man davon schwarze Finger. Das kann heute, wo Schornsteinfeger meist nur die Abgaswerte der Gasetagenheizung überprüfen, eigentlich nicht mehr passieren.

Auch Bernd Müller hat längst eine Gasetagenheizung in seinem Eigenheim. Ein alter gusseisernen Ofen, übrig geblieben von seiner riesigen Sammlung, dient nur zur Dekoration. Ist das nicht schade, so ganz ohne Kohleofen im Haus? „Ach was“, zuckt Müller mit den Schultern, „es ist halt so. Ich kann schlechter sehen und mich nicht mehr so bücken, da muss ich keinen Ofen mehr heizen.“

Bernd Müller, „Zukunft ist ohne Vergangenheit nicht möglich. 50 Jahre als Schornsteinfeger in Berlin“, 139 Seiten, 19,95 €, Berlin Story Verlag

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