piwik no script img

Ein Jahr nach der Befreiung in Syrien„8. Dezember – ein neues Kapitel“

Vor einem Jahr wurde Baschar al-Assad in Syrien gestürzt. Während seiner Diktatur litten fast alle im Land. Nun feiern sie ausgelassen den Jahrestag.

Ein Jahr nach der Befreiung: Syrer rufen Slogans und schwenken Fahnen vor der Umayyad-Moschee in Damaskus Foto: Omar Sanadiki/ap/dpa
Julia Neumann

Aus Damaskus

Julia Neumann

Grün-rot-goldene Feuerfunken schießen in die Luft, junge Männer stehen im Pulk, einer sitzt auf den Schultern des anderen. Er hält eine rote Leuchtfeuerkerze in die Höhe, auf dem Boden liegen zerrissene und schmutzige Geldscheine mit dem Gesicht von Ex-Diktator Baschar al-Assad. Es ist eine ausgelassene Stimmung am Umayyaden-Platz in Damaskus an diesem Abend. Es riecht nach abgebrannten Feuerwerk, das eigene Wort ist kaum zu hören.

Auf einem riesigen LED-Bildschirm steht: „Syrien vereint uns“ und „8. Dezember – ein neues Kapitel“. Um den Platz stauen sich die Autos, Männer sitzen und stehen auf den Autodächern, schwenken Flaggen, grölen; Motoren heulen auf, lautes Hupen.

Ein Jahr nach dem Sturz der Assad-Diktatur ist die Hauptstadt Syriens in Feierlaune. Die Flagge des „neuen Syriens“, drei rote Sterne auf weiß-grünem Untergrund, ist überall zu sehen: Auf Wimpeln in der Altstadt, als Dekoration am einem Streetfood-Stand, als Klebetattoo auf Wangen von Kindern, gedruckt auf T-Shirts und Schals, als Folie großflächig auf Autos geklebt.

Im berühmten Eisladen Bekdasche in der Innenstadt fädeln Angestellte Flaggen auf Holzstäbe. Zur Feier des Tages gibt es das weiße, cremige Eis mit den grünen Pistazien fünfzehn Prozent günstiger.

Recherchefonds Ausland e.V.

Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.

➡ Erfahren Sie hier mehr dazu

Nicht alle trauen Präsident al-Scharaa

„Eins, eins, eins, die Syrer sind ein Volk“, rufen manche, andere: „Revolution, Revolution!“ Auf dem Umayyaden-Platz lacht und hüpft die 20-Jährige Esraa al-Hariri. Sie schwenkt die syrische Flagge und ruft: „Ich bin sehr glücklich.“ Sie kommt aus Dara’a. Dem Ort, an dem die Revolution des syrischen Volkes 2011 angefangen hatte. Obwohl sie damals erst neun Jahre alt war, sei sie mit bei den Protesten auf der Straße gewesen. „Wir hatten Hoffnung auf die Befreiung vom Regime.“

Angesprochen auf Binnengeflüchtete aus Suweida, die vor den Truppen der derzeitigen Regierung fliehen mussten, sagt al-Hariri: „Ja, nicht das ganze Land ist sicher.“ Manche Politiker würden „Konfessionalismus schüren“. Doch al-Hariri verweist auf ihren vielfältigen Freundeskreis, der Sunniten, Alawiten und Drusen umfasse. „Ich bin zuversichtlich, dass ganz Syrien bald vereint sein wird.“

Die derzeitige Regierung ist nicht gewählt. Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa hatte die oppositionellen Truppen angeführt, die das Regime endgültig zu Fall brachten. Danach hatte er sich zum Präsidenten ernannt und Ministerposten vergeben. Al-Scharaa folgte einst einer radikalen Auslegung des sunnitischen Islam. Nicht alle trauen nun dem ehemaligen Dschihadisten in Anzug und Krawatte. Zumal in dem Jahr seit der Befreiung weiter Massaker verübt wurden – auch von Truppen der Regierung.

Die Gewalt tritt bei den Feiern in den Hintergrund. Die Sy­re­r*in­nen genießen diesen Moment der Freude, nach 14 Jahren des Krieges und 54-Jahren der Diktatur unter Assad.

Syrien

Die über 50-jährige Gewaltherrschaft der Assad-Familie ist seit 2024 Geschichte. Baschar al-Assad ist nach Russland geflüchtet, nachdem Rebellen das Regime gestürzt haben. Derzeit amtiert die Übergangsregierung von HTS-Führer al-Scharaa.

➝ Mehr zum Thema Syrien

„Wenn Syrien nicht befreit worden wäre, wäre ich nicht hier“

„Ich wollte die Feier auf keinen Fall verpassen!“, sagt Hussam al-Kurdi. Er trägt eine palästinensische und eine syrische Kuffieh zusammengeknotet um seine Schultern, seine Freunde machen Fotos von ihm, wie er das Peace-Zeichen zeigt und die neue syrische Flagge schwingt. Der 30-Jährige arbeitet als IT-Manger in einer Musikfirma und lebt seit 12 Jahren in Stockholm in Schweden. „Ich habe die Hälfte meines Lebens außerhalb Syriens verbracht und hätte nie gedacht, dass ich jemals mein Heimatland besuchen könnte“, sagt er. „Wenn Syrien nicht befreit worden wäre, wäre ich nicht hier, sondern säße wahrscheinlich im Gefängnis und würde gefoltert werden.“

So wie sein Vater Abdulrazak al-Kurdi. „Sie haben eine Millionen Menschen umgebracht, mein Vater war einer von ihnen. Er hatte als Arzt in Damaskus geholfen, die vom Assad-Regime bombardiert wurden.“ Das sei nicht erlaubt gewesen, doch sein Vater widersetzte sich. Bald darauf sei er von der syrischen Regierung festgenommen worden. „Wir erfuhren erst 14 Jahre später, dass er zwei Jahre nach seiner Verhaftung gestorben war.“

In der Erinnerung an seinen Vater feiert Hussam al-Kurdi nun den Jahrestag des Regime-Sturzes. Und er möchte das Volk in Syrien nun mit Spenden unterstützen, sagt er.


Häuser, die in Trümmern liegen – bis heute

Von den 25 Millionen Menschen im Land leben rund 90 Prozent unter der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze von zwei Euro pro Tag. Noch immer sind Menschen binnenvertrieben, Häuser, Krankenhäuser und Infrastraktur massiv zerstört. Viele, die zurückkehren, finden unbewohnbare Häuser vor. Oder Viertel, in denen die Grundversorgung kaum funktioniert.

Viele können nicht zurück. So wie Rana al-Arabi. „Ich habe kein Haus mehr. Es ist weg, liegt in Trümmern“, erzählt sie. „Nicht mal mehr eine Toilette gibt es dort.“ Die 35-Jährige kommt aus Jobar, ein Stadtbezirk von Damaskus, wo einst rund 380.000 Menschen lebten.

Ich habe die Hälfte meines Lebens außerhalb Syriens verbracht und hätte nie gedacht, dass ich jemals mein Heimatland besuchen könnte.

Hussam Al-Kurdi

Heute ist Jobar eine Geisterstadt, Assads Kräfte hatten sie erst bombardiert und dann geplündert. Vor 13 Jahren sei sie aus Jobar geflohen. Die Familie kommt eigentlich aus Irbin, einem Vorort. Doch auch das sei komplett zerstört. „In Irbin hatte das Assad-Regime die Bevölkerung fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten und mit Giftgas angegriffen“, sagt sie.

Al-Arabi hofft dennoch, nach Jobar wiederzukehren. Geld, ihre Häuser wieder aufzubauen, hat sie aber nicht, sagt sie. Derzeit lebe sie in einer Mietwohnung. Für den Wiederaufbau ihres eigenen Besitzes brauche sie Hilfe von außen, sagt sie.

An diesem Tag jedoch kann al-Arabi die Sorgen etwas vergessen. Vor dem Damaszenerschwert-Denkmal auf dem Umayyaden-Platz macht sie Selfies. Und sagt: „Ich fühle mich erleichtert und hoffe, dass sich die Dinge zum Besseren wenden.“ Syrien sei im vergangenen Jahr sicherer geworden. „In der Vergangenheit hatten wir Angst vor Krieg und Zerstörung. Ich habe mich nicht getraut, meine Kinder zur Schule zu schicken.“ Mittlerweile sind die vier Zöglinge erwachsen. Drei von ihnen studierten Rechtswissenschaften, erzählt sie stolz.

„Wir können frei reden“, sagt ein Passant

Der 20-jährige Moussab al-Ali ist unter der Assad-Diktatur und im Krieg aufgewachsen. Heute steht er auf dem Umayyaden-Platz vor Polizisten und redet über die düstere Vergangenheit. Niemals wäre das möglich gewesen unter dem Assad-Regime. Ein Passant hört neugierig mit. „Keine Angst“, sagt er, „wir können frei reden.“

Al-Ali erzählt von seiner Kindheit: Seine Familie musste 2012, als er sechs Jahre alt war, ihr Zuhause in Sayyida Zeinab verlassen. Im Verlauf des Krieges wurde er in sechs verschiedene Gebiete vertrieben. „Scharfschützen haben sogar 90-Jährige auf der Straße erschossen“ erzählt er. Als Kind auf der Straße spielen? „Undenkbar.“

Ich bin zuversichtlich, dass ganz Syrien bald vereint sein wird

Esraa al-Hariri

Früher wollte er das Land verlassen, um im Ausland zu studieren. Heute studiert al-Ali Zahnmedizin in Damaskus. Er möchte in Syrien bleiben, sich dort eine Zukunft aufbauen. Vieles habe sich bereits verbessert, sagt er: „Unter der vorherigen Regierung musste man drei Stunden warten, um einen Laib Brot zu bekommen. Heute dauert es maximal fünf Minuten.“ Die Preise für Lebensmittel oder Medikamente seien zwar ähnlich geblieben, aber die Löhne gestiegen.

Hoffnung auf die Zukunft

Etwas entfernt, auf der Zufahrtsstraße, schenkt Mohammed Schakir Tee und Kaffee aus dem Kofferraum eines Autos aus. Das Einkommen reiche, um seine Miete zu bezahlen. „Ich war Mechaniker, aber das Geschäft wurde angegriffen und zerstört. Dadurch war ich gezwungen, die Arbeit zu wechseln. Ich bin offen für jede Art von Arbeit. Hauptsache, ich verdiene meinen Lebensunterhalt.“

Der 36-Jährige ist Palästinenser, er stammt aus dem Yarmouk-Camp. Das palästinensische Lager wurde 2013 von Assads Truppen belagert und ausgehungert. Schakir floh damals in die Region Saidnaya, nördlich von Damaskus. „Das ganze Haus wurde zerstört. Ich arbeite zurzeit daran, unser Zuhause in Yarmouk zu reparieren, Stück für Stück.“

Schakir sagt, die Gemeinde habe zugesagt, die dortige Infrastruktur zu reparieren. Bisher fehle es aber am Allernötigsten: Die Stadtverwaltung liefere weder Strom noch Wasser. Trotzdem ist der Palästinenser optimistisch: „Uns geht es jetzt viel besser als vor der Befreiung. Uns wird es in Zukunft noch besser gehen, inschallah.“

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare