Ein Jahr nach dem UN-Bildungsbericht: Nur ein bisschen Hauptschulkosmetik
Bis heute hat Deutschland keine Stellung zum Bildungsbericht des UN-Sonderbotschafters bezogen. Der bemängelte die Selektivität des Bildungsystems - geändert hat sich seitdem wenig.
Vor einem Jahr schäumten die konservativen Vertreter der Republik über den "UN-Querulanten aus Costa Rica". Der Präsident des Lehrerverbandes, Josef Kraus, befand in nationaler Empörung sogar, es sei "patriotische Pflicht", sich nicht von einem "internationalen Gesamtschulkartell vor den Karren" spannen zu lassen. Gemeint war damit Vernor Muñoz, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung. Dabei hatte Muñoz in seinem Bericht, den er am 21. März in Genf vorlegte, nur beschrieben, was er vorgefunden hatte: Das deutsche Bildungswesen ist ungerecht. Es benachteiligt insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, Behinderte und Kinder aus bildungsfernen Schichten. Die Ausgrenzung beginnt laut Muñoz schon bei der unzureichenden frühkindlichen Erziehung im Kindergarten, wird verstärkt durch die viel zu frühe Auslese der Kinder nach vier Jahren Grundschule. Sie setzt sich bis zum Ende der Schulzeit und der Berufsfindungsphase fort.
Die Kritik wird von vielen nationalen und internationalen Experten geteilt. Doch sie zeitigt kaum Wirkung. "Muñoz hat die Kultusminister in Deutschland nicht gerade in eifrige Aktivität versetzt", meint die Vizevorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Marianne Demmer. Sowohl vonseiten der Bundesregierung als auch von der Kultusministerkonferenz gibt es auch ein Jahr nach dem Bericht noch keine offizielle Reaktion. Doch sie muss kommen. Spätestens in einem Jahr, wenn die Bundesregierung dem UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder in Genf ihren Länderbericht vorlegen muss. Der Ausschuss werde der Bundesregierung "auch auf Grundlage des Muñoz-Berichtes" Fragen zur Situation der Kinderrechte hierzulande stellen, ist sich Lothar Krappmann sicher. Der emeritierte Professor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin ist selbst Mitglied dieses UN-Ausschusses.
Immerhin, ein Kritikpunkt des UN-Sonderbeauftragten scheint auch Deutschland nachdenklich zu machen: die Hauptschulen. "Die Hauptschulen in Deutschland haben sich zu reinen Resteschulen entwickelt", sagt Krappmann. Rund 44 Prozent aller Migrantenkinder, aber nur 19 Prozent der deutschen Jugendlichen besuchen die Resteschule. Fast jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund verlässt sie ohne irgendeinen Schulabschluss (bei den deutschen Kindern sind es 8,5 Prozent). Inzwischen denken aber die Regierungen in Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein darüber nach, die bisher dreigliedrige Schule in eine zweigliedrige umzuwandeln.
In Baden-Württemberg sollen die 5. und 6. Klassen in 20 Modellprojekten Haupt- und Realschule zusammengelegt werden. In Berlin startet der Schulversuch Gemeinschaftsschule, in dem Kinder bis zum Ende der Sekundarstufe I (10. Klasse) gemeinsam unterrichtet werden. Vernor Muñoz wird das freuen. Andere Bundesländer wollen dagegen die Schulform Hauptschule verfestigen und starten eine "Qualitätsoffensive Hauptschule" - etwa Nordrhein-Westfalen .
Bei all den Versuchen, ein zweigliedriges Schulsystem aufzubauen, bleibt jedoch eines gleich: Der Hauptschulabschluss soll bestehen bleiben. "Es genügt nicht, die Schulen alle unter ein Dach zu legen", findet Krappmann daher. "Es sind echte Anstrengungen nötig, um die Kinder zu stärken, zu fördern und zu integrieren." Dafür braucht es, so Krappmann, von allem mehr als bisher: "Mehr Lehrer, besser ausgestattete Schulen, mehr Einzelförderung, mehr Gruppenarbeit, besser ausgebildete Lehrer, mehr Sport- und Musikunterricht und eine bessere Schulspeisung für alle Kinder."
Auch die Bundesregierung könnte dieser Meinung sein. Immerhin lässt sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge derzeit ein bundesweites Integrationsprogramm erarbeiten. In einem ersten Papier heißt es da: "Bildung ist die Grundlage und der Ausgangspunkt für die Integration in alle gesellschaftlichen Bereiche. Damit spielt sie eine Schlüsselrolle für die Integration von Migranten."
Dass diese Integration tatsächlich funktionieren kann, zeigen verschiedene Einzelprojekte, etwa die Kindertagesstätte Wiesbaden von Terre des Hommes. Seit 1973 existiert diese interkulturelle Kita im Bergkirchenviertel, einem Stadtteil mit 45 Prozent Migranten und Flüchtlingen. "Wir bieten Ganztagesbetreuung mit gezielten Förder- und Bildungsangeboten für Kinder", erklärt Hanne Steglich, Leiterin der Kita. "Zurzeit sind Kinder aus 14 Nationen bei uns." Im Team arbeiten zur Hälfte Erzieherinnen mit Migrationshintergrund. "Wir fördern die Sprachkompetenz der Kinder in der deutschen Sprache und in ihrer Muttersprache", sagt Steglich. "Es geht uns darum, den Kindern zu zeigen, dass wir ihre Sprache und das, was sie aus ihrer Kultur mitbringen, wertschätzen." Außerdem legt die Kita viel Wert auf Elternarbeit. "Wir beteiligen die Familie an unserer Arbeit. Wir fragen, was sie brauchen, richten uns in unseren Öffnungszeiten nach dem Bedarf der Eltern, sprechen über Kindererziehung und zeigen den Eltern auf, wie sich ihr Kind entwickelt."
Elternarbeit spielt auch beim Jugendhilfe-Träger Basis & Woge e. V. in Hamburg eine große Rolle. Eine Sozialpädagogin des Vereins, die an einer Grund-, Haupt- und Realschule in Billstedt arbeitet, initiierte hier ein interkulturelles Elterncafé. "Die Schule hatte immer das Problem, ausländische Eltern nicht zu erreichen", erklärt Maria Engst von Woge. Ins Elterncafé kommen inzwischen überwiegend die Mütter der Migrantenkinder, obwohl es auch Deutschen offensteht. "Hier bieten wir Beratung", erzählt Engst, "oder wir diskutieren über den Fernsehkonsum der Kinder oder über Ernährung und Bewegung." Bisher findet das Café nur einmal im Monat statt. Für mehr fehlt das Geld.
Seit Januar betreut Woge auch das Projekt "Brücken bauen", das der europäische Sozialfonds finanziert. Auch hier geht es um Elternarbeit, diesmal an der Schwelle von der Schule zum Beruf. Viele Eltern mit Migrationshintergrund verstehen das deutsche Schulwesen nicht. "So mancher Vater, dessen Sohn auf die Hauptschule geht, träumt davon, dass sein Filius später Arzt wird", erzählt Engst. Dass das mit einem Hauptschulabschluss nicht möglich ist, weiß er gar nicht.
Manche Eltern können sich solche Träume nicht erlauben, denn ihre Kinder werden in Deutschland gar nicht erst in die Schule hineingelassen. Im Saarland, in Baden-Württemberg und in Hessen existiert bisher keine Schulpflicht für Flüchtlingskinder. Das Saarland will das zum kommenden Schuljahr ändern. Ein entsprechender Gesetzesentwurf soll noch im März das Kabinett passieren. In Hessen gibt es keine Schulpflicht, "aber Kinder mit einer Duldung werden in den Schulen aufgenommen", sagt Irmela Wiesinger vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Problematisch wird es, wenn sie stören oder anders auffällig werden - die Schule kann sie jederzeit wieder rausschmeißen. "Problematisch sind auch alle Kinder, die erst mit 15 Jahren nach Deutschland kommen", sagt Wiesinger. "Egal wie lange sie die Schule in ihrer Heimat besuchten - hier heißt es, die haben doch die Schulpflicht erfüllt."
Auch in Hessen plante die alte Landesregierung, die Schulpflicht für geduldete Kinder einzuführen. Das geht zumindest aus der Antwort auf eine große Anfrage der SPD-Fraktion vom Mai 2007 hervor. Geschehen ist bisher noch nichts. Der UNHCR überlegt längst, ob er hier nicht aktiv werden soll. Immerhin, so erklärt Uta Rieger vom UN-Flüchtlingskommissariat, verstoßen Baden-Württemberg und Hessen nicht nur gegen die UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch gegen die EU-Aufnahmerichtlinie, die vorsieht, dass Kinder spätestens drei Monate nach ihrer Einreise Zugang zu Bildung bekommen sollen.
Ganz katastrophal wird die Bildungssituation für Kinder, die illegal in Deutschland leben. Nach dem Aufenthaltsgesetz haben Schulen die Verpflichtung, den Ausländerbehörden illegale Schüler zu melden. Das wird von Land zu Land sehr unterschiedlich gehandhabt. Illegale Kinder freilich werden schon aus Angst vor möglicher Entdeckung oft gar nicht erst zur Schule geschickt. Die GEW kritisierte diesen Umstand im Februar in einem Brief an Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) - mit Verweis auf Vernor Muñoz. Doch Schäuble macht es wie die Bundesregierung - er antwortet auf Muñoz nicht.
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