Ein Jahr nach Nawalnys Vergiftung: Tiefsitzende Apathie
Die Repression in Russland ist noch schärfer geworden. Die kritischen Stimmen verstummen nicht – aber der Staat nimmt ihnen alle Freiräume.
E rst an diesem Mittwoch waren die Polizisten in Zivil wieder ausgerückt. Mitten in der Nacht. Es galt diejenigen zu „besuchen“, deren E-Mail-Adressen Russlands Staatsapparat in den Datenbanken der Organisationen des inhaftierten Kremlkritikers Alexei Nawalny gefunden hatte: Organisationen, die Russlands willfährige Justiz kürzlich für extremistisch erklärt hat. Die Strukturen Nawalnys hat das Regime zerschlagen, mit der Einschüchterungstaktik der Bevölkerung fährt es quer durchs Land fort.
An diesem Freitag jährt sich die Vergiftung des auch in Russland umstrittenen Oppositionspolitikers. Der heute 45-Jährige überlebte den Nervengiftanschlag, hinter dem wohl Russlands Geheimdienst FSB steckt, und kehrte nach seiner Behandlung in Deutschland nach Moskau zurück. Wohl wissend, dass seine Tage in Freiheit gezählt sind.
Vor wenigen Tagen erst präsentierten die Behörden Nawalny eine neue Anklage; sie ist noch absurder als viele zuvor. Das Ziel: Freiheitsentzug, so lange wie möglich. Alles, was sich der direkten Kontrolle des Kremls entzieht, darf nach dessen Logik nicht existieren. Deshalb werden seit Nawalnys Rückkehr Gesetze verschärft, werden Bürger*innen zu „ausländischen Agenten“ erklärt, auch Medien zu „unerwünschten Organisationen“ abgestempelt.
Kritiker werden als Feinde gebrandmarkt, Andersdenkende verurteilt, oppositionelle Politiker*innen ins Exil getrieben. Selbst die geduldete Opposition – wie die Kommunisten – wird mittlerweile ausgebremst und ihr aussichtsreichster Kandidat nicht zur Parlamentswahl im September zugelassen.
Die kritischen Stimmen verstummen nicht, doch nimmt ihnen der Staat jegliche Freiräume. Die Lage verhärtet sich drastisch, Apathie hat sich hineingefressen in die Gesellschaft. Sich Putins Staat entgegenzustellen, wagen immer weniger Menschen, weil dieser Staat aus Angst vor dem Erstarken kritischer Geister immer schamloser vorführt, wohin solch ein Einsatz führen kann: zum Verlust der Arbeit, in die Strafkolonie oder zur Körperverletzung mit verbotenem Nervengift.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP