Ein Jahr nach Hetzjagd in Sachsen: Mügeln feiert wieder
Im August 2007 sorgte ein Gewaltausbruch gegen Inder in der sächsischen Kleinstadt Mügeln weltweit für Schlagzeilen. Heute möchten Mügelner vor allem in Ruhe gelassen werden.
MÜGELN taz Mügeln sieht nach vorn, sagt Bürgermeister Gotthard Deuse (FDP): "Der Blick zurück hilft uns nicht weiter, nur der Blick in die Zukunft. Mügeln weiß, was passiert ist, aber wir lassen uns nicht unterkriegen." Der Bürgermeister ist am Freitagabend im riesigen Zelt, das den gesamten Markt vor dem Rathaus einnimmt, wie ein Entertainer auf die Bühne gesprungen und eröffnet das jährliche Altstadtfest. Als er das Mikrofon aus der Hand legt, springen die ersten jugendlichen Fans schon kreischend nach vorn an die Rampe. The Firebirds werden wie in jedem Jahr erwartet. Boogie Woogie und Rock n Roll dröhnen los.
Spaß wollen die Mügelner haben und in Ruhe gelassen werden. So lauten die häufigsten Antworten auf die Frage nach den Erwartungen an den jährlichen Höhepunkt in der beschaulichen Kleinstadt. Vom "Recht zu feiern" hatte der Bürgermeister gesprochen. "War da etwas im Vorjahr?", kommt es von manchen provokant zurück, wenn sie an die Übergriffe auf indische Markthändler am Schluss des Festes 2007 erinnert werden. "Das kann bei jedem Dorffest passieren", winken die Jungen wie auch die Alten ab. "Eine ganz normale Schlägerei", so normal wie jene, an der der heute 60-jährige Bürgermeister früher auch mal beteiligt gewesen sein soll. Von den Medien im Sommerloch hochgespielt. "Ein ,Heil Hitler' kann jedem im Suff mal über die Lippen rutschen", sagt einer. "Für so etwas gibt es keine Wiederholung, das war eine einmalige Entgleisung", bekräftigt er. Wirklich? Kam speziell im Mob vor der Pizzeria, in die sich die Inder geflüchtet hatten, nicht ein gefährliches Grummeln zum Ausbruch, das nicht von heute auf morgen verschwindet? Vom "Zündfunken" sprach Bürgermeister Deuse vor einem Jahr. Um im Bild zu bleiben: Wo ist das brennbare Material geblieben, das von diesem Funken entzündet wurde? Schweigen.
Schweigen auch beim Bürgermeister, der vorab schon allen Journalisten erklären ließ, er werde sich zu den Vorfällen vor einem Jahr nicht mehr äußern. Dabei bleibt er auch. Ein "unpolitisches Fest" wünsche er sich. Etwas Politisches rutscht ihm aber doch heraus. Er habe mehr Angst vor der Antifa, die mit einer Demonstration schon den Weihnachtsmarkt störte, als vor irgendwelchen Rechten. Das Harmoniebedürfnis ist bis hinauf zum Stadtoberhaupt spürbar. "Der Liebe Gott weint Freudentränen, dass Mügeln wieder feiert", ruft Deuse wenig später unter Anspielung auf das Regenwetter von der Bühne.
Es schweigen hier auch jene, die vor einem Jahr noch Todesangst hatten. Singh, der Inder in der nach wie vor geöffneten Pizzeria beispielsweise. Im Festzelt entdeckt man am Freitagabend keine Ausländer. Vor der Pizzeria aber steht einsam Susann Meyer, deutsche Angestellte bei Singh, deren Tanz mit den Indern vor einem Jahr möglicherweise die Rempeleien im Bierzelt auslöste. Kaum ein spärliches Nicken auf Fragen. "Wir sagen alle nichts mehr", sagt sie.
An dieser kollektiven Verweigerung war im Herbst des Vorjahres schon der Aufarbeitungsversuch einer Sozialarbeiterin gescheitert. Gabriele Feyler erwarb sich in den Neunzigerjahren in der Frauen- und Jugendarbeit Sachsens einen guten Ruf, kam um die halbe Welt und war vier Jahre Caritasdirektorin der Diözese Moskau, bevor Putin sie auswies. Unter anderem an der Schule des Massakers im kaukasischen Beslan versuchte sie die "Thérapie sociale" ihres französischen Mentors Charles Rojzman anzuwenden. Mit ihm reiste sie auch nach Mügeln. Ich-Erkenntnis als Voraussetzung für eine kollektive Therapie, könnte man das Vorhaben auf eine Kurzformel bringen. Im Stadtrat, wo sie das Projekt vorstellten, stießen beide auf Unverständnis. Unterschwellige Angst sei ihr in der Stadt begegnet, berichtet Feyler, und die "Unfähigkeit, über die wirklichen Probleme zu reden". Also beispielsweise über den allgemeinen Frust oder speziell ostdeutsche Perspektivlosigkeiten, die ihr Ventil in einem völlig irrationalen Ausländerhass finden.
Etwas von dieser kollektiven Abwehr ist auch im Gespräch mit dem linken Stadtrat Herbert Wegner zu spüren. Er zieht sich auf die Position zurück, es seien keine rechtsextremen Strukturen am Ort nachweisbar. Fünf Prozent NPD bei den letzten Kommunalwahlen geben ihm allerdings zu denken. Den Auftritt von Feyler und Rojzman vor dem Stadtrat hat er nicht verstanden, aber "keiner hat die Courage, sich zu dem Vorfall zu äußeren", stellt auch der betagte Genosse fest. Wenn Wegner allerdings die inzwischen erfolgte Neuordnung der Jugendklubs lobt, gerät er in scharfen Kontrast zu den jungen Linken vom "Vive le courage e.V.".
Der Verein mit 13 Mitgliedern, der auch Mitglied im Netzwerk Tolerantes Sachsen ist, hat sich das Aufklären zum Ziel gesetzt. Der Club ist ihnen zu unpolitisch.
Einen Stand zum Stadtfest bekam der Verein nur für ein bisschen politikfreie Kultur und Kuchen genehmigt. So versuchen die Courage-Leute über die zweieinhalbtausend Mügelner Briefkästen mit Flugblättern die Bürger zum Nachdenken über sich selbst zu bewegen. Im traditionell kleinbürgerlichen Mügeln ein Unding. "Mügeln steht nur beispielhaft für latent braune und rassistische Gesinnungen in ganz Deutschland", nimmt Günter (Name geändert) seine Mitbewohner schon fast wieder in Schutz. Er räumt sogar ein, dass die pauschale Verurteilung der Stadt, wie sie durch Medien und die Antifa erfolgte, das kollektive Bollwerk und das Schweigen provoziert habe. "Ein verlorenes Jahr für die Stadt", meint Günter deshalb leicht resigniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen