Ein Herzstück Europas: Sisyphus in Straßburg
An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können sich 800 Millionen Europäer wenden. Für manche ist er die letzte Hoffnung. Akzeptiert wird er nicht von allen.
Fast geräuschlos gleitet die Straßenbahn in den Straßburger Norden. "Prochain arrêt: Droits de l'Homme", sagt eine weiche Frauenstimme, "nächster Halt: Menschenrechte". Welch schöne Ansage. Doch tatsächlich heißt so die Haltestelle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Europa hat mehrere Herzen, doch dieses hier in der Straßburger Allée des Droits de l'Homme Nr. 1 ist besonders wichtig. An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können sich rund 800 Millionen Europäer aus 47 Staaten wenden, wenn sie sich in ihren grundlegenden Rechten verletzt fühlen und in ihrem Heimatland keine Hilfe erhalten. Es ist ein Ort der letzten Hoffnung.
Immer wieder kommen Beschwerdeführer persönlich nach Straßburg, verteilen Flugblätter auf der weitläufigen Treppe vor dem Gerichtshof. Manche treten dort auch in den Hungerstreik, wenn ihre Beschwerde abgelehnt wurde. Der Gerichtshof beharrt dann nicht auf Bannmeilen und Hausrecht, sondern lässt sie ihren stummen und verzweifelten Protest zeigen, sofern sie das Gelände nach Dienstschluss verlassen.
Zwei europäische Gerichte heißen ganz ähnlich und werden deshalb oft verwechselt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist das Gericht des Europarats und sitzt in Straßburg. Er prüft, ob ein Staat gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen hat, die inzwischen von 47 Staaten ratifiziert wurde. Der EGMR kann von Bürgern angerufen werden, wenn sie den nationalen Rechtsweg durchlaufen haben.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist das Gericht der Europäischen Union (EU) und sitzt in Luxemburg. Er entscheidet über die Auslegung der EU-Verträge und des sonstigen EU-Rechts. Er kann von den 27 EU-Mitgliedstaaten und der Kommission angerufen werden. Außerdem legen ihm nationale Gerichte europarechtliche Streitfragen zur "Vorabentscheidung" vor. (chr)
Architektonisch ist der Gerichtshof ein Kunstwerk aus Glas und silbrig glänzendem Stahl. Die runden Sitzungssäle befinden sich in zwei vorgelagerten zylinderartigen Gebäuden mit markant angeschrägten Dächern. Modern wirkt das Ensemble, freundlich, aber eher wie die Zentrale eines aufstrebenden Autozulieferers als wie ein ehrwürdiger Justizpalast. Der Architekt Richard Rogers baute später den Millenium Dome in London.
Bestechung: sinnlos
In die Poststelle des Gerichtshofs wird jeden Morgen eine Karre mit neuen Briefen aus ganz Europa hereingefahren. Mitarbeiter prüfen, ob das richtige Formblatt und die Urteile der Vorinstanzen enthalten sind. Manchmal liegen handgeschriebene Briefe bei oder Gedichte, manchmal auch Geschenke, was natürlich nichts nützt.
Die Prozesse in Straßburg sind selten öffentlich, fast alle Beschwerden werden schriftlich erledigt. Nur etwa 25-mal pro Jahr verhandeln die Richter vor Publikum. Dann ruft ein Gerichtsdiener: "La cour!" und die Richter in ihren blauen Roben betreten von links im Gänsemarsch den Saal, laufen im Halbkreis zu ihrem Platz und setzen sich. Viel mehr bekommen die Zuschauer nicht mit von ihnen. Anders als beim Bundesverfassungsgericht sagen und fragen die Straßburger Richter nur wenig. Es sind die Anwälte, die vortragen und erwidern - und dann ist das Hearing meist schnell zu Ende.
Und doch ist der Gerichtshof ein großes, ein wichtiges Versprechen, das auch immer wieder eingelöst wird: Wer zu Hause kein Gehör findet, hat hier die Chance, dass europäische Richter den Fall ganz anders beurteilen. Sieben Juristen entscheiden normalerweise über einen Fall, nur einer kommt aus dem entsprechenden Land. Die anderen sind aus Sicht des Klägers Ausländer - fern von nationalem Filz, Druck oder traditionellen Sichtweisen.
Jeder der 47 Staaten des Europarats stellt einen Richter: das kleine Monaco genauso wie Deutschland oder das große Russland. Die deutsche Richterin ist Angelika Nußberger, eine Professorin aus Köln. Verpflichtet sind die Richter nur der 1950 geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention.
Mehr als 90 Prozent der Klagen werden schon im Vorfeld für unzulässig erklärt, etwa weil der nationale Rechtsweg nicht ausgeschöpft wurde. Doch in rund 1.500 Fällen pro Jahr kommt es tatsächlich zu Urteilen. Am häufigsten gab es im Vorjahr Verurteilungen der Türkei, auf ihr Konto gehen allein 19 Prozent aller Urteile, gefolgt von Russland (14 Prozent) und Rumänien (10 Prozent). Der Türkei werden meist überlange Verfahren und rechtswidrige Verhaftungen vorgeworfen. Bei Russland steht die unmenschliche Behandlung vor allem von Gefangenen im Vordergrund, in Rumänien der Eingriff in Eigentumsrechte.
Doch auch um Deutschland kümmert sich der Straßburger Gerichtshof immer häufiger. So beanstandete er 1995 im Fall der Lehrerin Dorothea Vogt die Praxis der deutschen Berufsverbote. Im Jahr 2004 erreichte Prinzessin Caroline von Monaco, dass der Schutz von Prominenten vor Pressefotografen verbessert wird. 2006 stellte der Gerichtshof fest, dass der Einsatz von Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer eine "unmenschliche und erniedrigende" Behandlung sei. Auch nichteheliche Väter erreichten in den letzten Jahren einige Erfolge im Streit um das Umgangs- und Sorgerecht für ihre Kinder. Zuletzt beanstandete der Gerichtshof die rückwirkende und nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in Deutschland.
Empörte Regierungen
Dass nun auch die Bundesrepublik verstärkt in den Straßburger Fokus geriet, missfiel nicht zuletzt den Karlsruher Verfassungsrichtern. Denn jedes Urteil gegen Deutschland ist zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht - das dem Problem zuvor ja nicht abgeholfen hat. Vor einem Jahr forderte dessen scheidender Präsident Hans-Jürgen Papier von der Straßburger Institution ausdrücklich mehr Zurückhaltung: "Ist ein Fall vor den nationalen Instanzen ausreichend geprüft, bedarf es keiner erneuten Detailprüfung durch eine internationale Gerichtsbarkeit."
Auf solche Vorschläge kann sich der Gerichtshof nicht einlassen. Schließlich stärkt jedes Urteil gegen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien zugleich die Autorität der Richter, wenn sie Menschenrechte in echten Problemstaaten wie etwa Russland einfordern.
Wie empört man in Russland über die ständigen Verurteilungen ist, zeigt ein aussichtsreicher Gesetzentwurf, der derzeit in der Moskauer Duma diskutiert wird. Danach will man die Urteile aus Straßburg nur noch akzeptieren, wenn das russische Verfassungsgericht einen Verstoß gegen die russische Verfassung feststellt - so soll die Souveränität Russlands geschützt werden. "Ich werde das Projekt erst stoppen, wenn Jesus Christus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorsitzt", sagte Senator Alexander Torschin, der Autor des Gesetzentwurfs.
Ähnliche Probleme gibt es mit Großbritannien. 2005 beanstandete der Straßburger Gerichtshof, dass britische Strafgefangene nicht wählen dürfen. Damit rührte der EGMR jedoch an eine jahrhundertealte Tradition. "Der Gedanke, dass Strafgefangene wählen dürfen, tut mir körperlich weh", sagte Premier David Cameron. Im britischen Parlament fiel der Vorschlag, Strafgefangenen künftig das Wahlrecht zu geben, dann auch mit 228 zu 20 Stimmen durch.
Stattdessen wächst in Großbritannien die Kritik an einem angeblichen "Government of Judges", einer Regierung der Richter, und es wird bereits über den Ausstieg aus der Menschenrechtskonvention diskutiert. "Das einzige Land, das die Konvention bisher aufgekündigt hat, war Griechenland - während der Militärdiktatur 1967", warnte Jean-Paul Costa, der damalige Präsident des Gerichtshofs im Februar.
In Straßburg möchte man, das ist deutlich zu spüren, weitere Großkonflikte vermeiden. Ein solcher drohte mit Italien, als der Gerichtshof im Jahr 2009 Kruzifixe in öffentlichen Schulen verbot. Das Urteil sei "schockierend, falsch und kurzsichtig", hieß es prompt aus dem Vatikan. "Wir behalten das Kruzifix", sagte der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi unter Beifall aus allen politischen Lagern. Vermutlich wäre das Straßburger Verdikt in Italien also gar nicht befolgt worden. Doch der Gerichtshof vermied den drohenden Autoritätsverlust im März diesen Jahres. Die Große Kammer mit 17 Richtern gab der italienischen Berufung statt, es bestehe in dieser Frage doch ein nationaler Beurteilungsspielraum. Die Kruzifixe bleiben also erlaubt.
Beschwerdeflut
Angelika Nußberger, die deutsche EGMR-Richterin, machte jüngst bei einer Veranstaltung in Straßburg ihren täglichen Spagat ganz deutlich. Die Menschenrechtskonvention sei zwar ein "living instrument", das nicht auf dem Stand von 1950 stehen bleibe. Sie könne und müsse bei Bedarf weiterentwickelt werden. "Wenn Urteile aber als utopisch und fernliegend angesehen werden, dann ist keine Akzeptanz möglich", sagte Nußberger, und letztlich beruht die Autorität des Gerichtshofs ja nur auf Akzeptanz.
Zu viel Akzeptanz der Bürger ist allerdings auch ein Problem. Jahr für Jahr kommen mehr Klagen in Straßburg an. Der Gerichtshof schiebt einen gewaltigen Berg von inzwischen 152.000 unerledigten Beschwerden vor sich her, davon fast ein Drittel aus Russland. Zwar steigert der Gerichtshof seine Effizienz Jahr für Jahr, zum Beispiel können offensichtlich unzulässige Beschwerden inzwischen von Einzelrichtern abgelehnt werden. Doch während so 2010 immerhin 40.000 Verfahren erledigt wurden, kamen gleichzeitig doch 60.000 neue Klagen hinzu. Es ist eine Sisyphusarbeit. Jetzt werden Gebühren für die Kläger in Erwägung gezogen - doch wie soll ein russischer Strafgefangener solche Gebühren bezahlen? Eine vernünftige Lösung für die Überlastung des Gerichtshofs ist nicht in Sicht.
Auch in einem kleinen Konflikt kamen die Richter noch nicht weiter. Als in der Cafeteria des Gerichtshofs eine beliebte Mitarbeiterin gegen ihren Willen versetzt werden sollte, riefen die Richter im Mai einen Café-Streik aus. Zwar ohne Erfolg, aber die Richter zeigten wenigstens ihr gutes Herz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften