■ Die Erwartungen an die EU-Integration wurden in Amsterdam auf ihr realistisches Maß zurückgeschraubt: Ein Europa der Kompromisse
Wohin treibt die Europäische Union? In Amsterdam haben die fünfzehn Regierungschefs eine grandiose Bauchlandung hingelegt, aber was schert das die Leute? Die Regierungen haben ihre eigenen Erwartungen nicht erfüllt, aber waren das die Erwartungen der Bürger der EU-Länder? Welche Probleme wären denn gelöst, wenn die 15 Innenminister in Brüssel künftig mit Mehrheit beschließen könnten? In sechs Monaten beginnen die Erweiterungsverhandlungen der Europäischen Union mit Polen, Ungarn, Tschechien und einigen anderen mittel- und osteuropäischen Staaten. Dafür müsse die EU entscheidungsfähiger werden, haben uns die Kohls und Kinkels immer erzählt. Es müsse das Vetorecht eingedämmt werden, damit nicht ein einzelner Staat alles blockieren kann. Sie haben es nicht geschafft, doch wird die Erweiterung deshalb jetzt schiefgehen?
Die simple Wahrheit ist, daß in der EU der Unterschied zwischen Einstimmigkeit und Mehrheitsabstimmung nicht besonders groß ist. Innenminister beispielsweise können sich nie einigen, egal ob einstimmig oder nicht. Das sind in der Regel alte Haudegen, die felsenfest davon überzeugt sind, daß allein sie selbst das richtige Konzept zur Verbrechensbekämpfung haben. Seit zwölf Jahren streiten sie nahezu ergebnislos um die Umsetzung des Schengener Abkommens. Das schönste Beispiel für die Kompromißunfähigkeit lieferten sie im letzten Jahr, als sie 32 Arbeitssitzungen brauchten, um sich auf die Größe des gemeinsamen Visumstempels zu einigen.
Für Innenminister ist jede Frage von vitaler Wichtigkeit, und da greift ein ungeschriebenes Gesetz der EU, daß in vitalen Fragen kein Land überstimmt wird, auch nicht mit Mehrheit. Die Agrarminister beschließen schon lange nicht mehr einstimmig, und trotzdem wurde bisher kein Preispaket verabschiedet, solange nicht alle einverstanden waren. Daß sich Regierungen bei innen- oder gar außenpolitischen Fragen überstimmen lassen, ist praktisch unvorstellbar.
Die Europäische Union ist kein Bundesstaat und wird auf absehbare Zeit auch keiner werden. Sie ist das Produkt unzähliger Kompromisse, das Ergebnis eines vierzigjährigen Ringens souveräner Staaten um mehr Gemeinsamkeiten, ohne die Eigenheiten zu verlieren. Daher die unbefriedigende Unklarheit der Strukturen, die Komplexität der Entscheidungswege. Die Europäische Union ist der geschichtlich bisher einmalige Versuch, höchst unterschiedliche Länder in Friedenszeiten gleichberechtigt zusammenzubinden und zu verflechten. Deshalb wird die EU nie die politische Klarheit von Nationalstaaten haben, die in der Regel aus Kriegen oder diktatorischer Besatzung hervorgegangen sind.
Große Fortschritte hat die europäische Einigung nur in Zeiten politischer Unsicherheit gemacht, Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre etwa, als der Kalte Krieg besonders frostig war. Da hatten dann auch Visionen eine Chance, von der Bevölkerung mitgetragen zu werden. In normalen Zeiten lebt der europäische Einigungsprozeß vom Leidensdruck der Regierungen, die in tausend Detailfragen nach gemeinsamen Lösungen suchen, weil sie allein nicht mehr damit fertigwerden. Deshalb klammern sich die Regierungen auch so an den Euro, daher hat er seine Strahlkraft . Er ist die bisher letzte große Vision einer Europäischen Union. Er ist entstanden nach dem Fall der Mauer, als die Nachbarländer Angst vor dem plötzlichen Wiedererstarken eines Vereinten Deutschlands hatten — und die Deutschen Angst vor sich selbst und vor dem Mißtrauen der Nachbarn. Vor diesem Hintergrund konnte der Maastricht-Vertrag entworfen werden.
Die Regierungschefs spüren, daß sie zu einer solchen Einigung heute nicht mehr fähig wären. Wir leben in einer normalen, spannungsfreien Zeit. Das Scheitern von Amsterdam war absehbar. Die Bevölkerung in den meisten EU- Ländern will zur Zeit nicht mehr Europa. Und das spüren ihre Regierungen. Soweit funktioniert die Demokratie in der EU, daß die Regierungen in Zeiten großer Skepsis eher vorsichtig sind mit Neuerungen. Bundeskanzler Kohl selbst war es, der zum Schluß alles blockierte, was sein Verhandlungsführer Hoyer während der 16monatigen Vorbereitung aufgebaut hatte. Kohl wollte nichts beschließen, was zu Hause neue Widerstände gegen die EU wecken könnte. Er möchte den Euro durchziehen und kann keine Nebenkriegsschauplätze brauchen.
Die Währungsunion, so die Hoffung, werde die weitere politische Einigung erzwingen. Das ist Politik durch Leidensdruck pur, Erfolg ungewiß. Das Dilemma der EU ist, daß sie immer wieder Visionen braucht, weil ihr unmittelbarer Nutzen offensichtlich nur schwer zu vermitteln ist. Daß der Binnenmarkt vor allem in Deutschland Arbeitsplätze geschaffen hat, ist unter Wirtschaftswissenschaftlern weitgehend unbestritten, aber die Leute sehen in erster Linie den portugiesischen Bauarbeiter, der auf dem Potsdamer Platz arbeitet, weil er billiger ist als ein deutscher Maurer. Wen interessiert schon, daß die EU ein Raum von Rechtssicherheit ist, wie er sonst kaum irgendwo auf der Welt existiert. Wer erinnert sich noch, daß Spanien, Portugal und Griechenland noch bis vor wenig mehr als 20 Jahren Diktaturen waren und heute stabile Demokratien sind. Die Demokratisierung in Mittel- und Osteuropa wäre ohne das Versprechen des EU-Beitritts kaum so zügig und reibungslos passiert. Kohls wolkiger Hinweis, daß die EU eine Frage von Krieg und Frieden sei, ist zwar richtig, hilft aber nicht weiter. Oder sind wir nach dem Scheitern von Amsterdam ein Stück näher an den Krieg gerückt? Die einzigen, die das Ergebnis wirklich ausbaden müssen, sind die Minister, die in Brüssel weiterhin in elend langen Sitzungen herumhängen. Wenn noch ein paar Länder dazukommen, werden die Sitzungen noch ein bißchen länger. Die bloße Aussicht, daß am Ende notfalls mit Mehrheit abgestimmt werden könnte, hätte bei einigen sicher die Disziplin gefördert. Aber die Beschlüsse selbst wären kaum anders ausgefallen.
Die einzige Reform, die wirklich etwas ändern würde, wird derzeit nicht einmal diskutiert: Das Europaparlament als gesetzgebende Kammer muß wie auch der Ministerrat jedem Gesetz zustimmen. Ein Parlament entscheidet immer mit Mehrheit, es werden auch nicht Länder überstimmt, sondern Meinungen. Und wenn sich ein Land trotzdem überfahren fühlt, kann die Regierung im Ministerrat immer noch dagegenstimmen. Das ist der einzige Weg, die EU wirklich handlungsfähiger und transparenter zu machen.
Man sollte sich nichts vormachen, die EU wäre dann tatsächlich ein Bundesstaat, der ziemlich schnell ziemlich viele Kompetenzen an sich ziehen würde. Wer sich das Straßburger Parlament einmal genauer anschaut, kommt zu dem Schluß, daß auch die Deutschen und auch die Grünen damit enorme Probleme bekommen könnten. Viele Umweltgesetze, die in Deutschland eine Mehrheit finden und im Ministerrat behauptet wurden, würden im Europaparlament niedergestimmt werden, an erster Stelle die deutschen Recyclingquoten. Wie gesagt, wer mehr Europa will, sollte sich da nichts vormachen. Alois Berger
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