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Ein Dorf feiertWenn die Luft vibriert

Dörfer sind Rätsel. Wenn es gut läuft, hält sie etwas zusammen. Was? Eine Spurensuche auf dem Dorffest von Oberrimsingen in Südbaden.

Vorfreude: Der Rudi fährt an zwei Niederrimsinger Musikern vorbei Foto: Eric Vazzoler

Im Sommer, wenn die Sonne auf die Rheinebene zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald brennt und sich ein diesiger Schleier auf die Dörfer legt, als vibriere die Luft über den Dächern, als könne, was ausgeatmet wird, nicht aufsteigen, feiert Oberrimsingen ein dreitägiges Fest.

Noch allerdings ist es nicht so weit. Noch sind Männer, breitschultrige Kerle und dazwischen ein paar Dünne, dabei, im Schlossgarten, der klein ist, der kaum mehr als einem Dutzend ausladenden Kastanien Platz bietet, alles aufzubauen: Zelte, Theken, Kühlschränke werden aufgestellt. Lichter installiert, Wasserleitungen angeschlossen, Zapfhähne, Grills, Spülmaschinen zum Laufen gebracht, Überdachungen fixiert, Pavillons, Tanzböden, Tische, Stühle.

„Wir schaffen es nur, wenn ihr mitmacht“, hatte Jimmy vor dem Aufbau auf WhatsApp an alle geschrieben. Halt, stopp, das Dorf, in dem das Fest ist, ist in Südbaden, da haben die Personen auch vor dem Namen Artikel. Der Jimmy also hat die Nachricht geschrieben, der Jimmy, spielt Tenorsaxofon und ist, was den Körperbau angeht, einer der Dünnen.

Wie auch immer, eine Woche haben sie gebraucht und am Freitagabend ist es geschafft. Dann sitzen sie an zwei Biertischen, der Klaus, der Bruno, der Rudi, der Spitzer, der Alfi, der Lelle, der Wolfi, der Timon – ach, wie sie alle heißen –, auch der Tommi, der Müller Thomas ist das (ja, der Nachname kommt bei Eingesessenen immer zuerst). Altsaxofonist und erster Vorstand des Musikvereins ist er, „ein Alphatier“ – seine Worte –, und am Ende des Tisches der Pi, der Mangold Pius. Er spielt F-Horn und ist Ortsvorsteher und wird, das weiß man da noch nicht, in der Nacht mit Atemnot, Luftnot ins Herzzentrum gebracht – die Verantwortung fürs Dorf so groß.

Sie spüren Vorfreude

In einer Hand haben die Männer eine Flasche – Bier, Wasser – in der anderen Leberkäse zwischen zwei Scheiben Brot. Sie hocken unter den mit farbigen Lampen behängten Bäumen im Schlossgarten des 1.600 Einwohner zählenden Ortes – das Schloss gehört keinem Adligen mehr – und spüren Vorfreude. Die stimmt sie mild, sie erzählen von alten Heldentaten und wie sie es jetzt wieder geschafft haben.

„Echte Manpower“, sagt Didi, Trompeter, „ich reib mir die Augen, dass das alles steht.“ Seltener als sonst fällt einer dem anderen ins Wort. Sie wollen, dass das Fest schön wird – es ist ein Geschenk des Musikvereins ans Dorf. Musik – im Alemannischen heißt das: Müssig. „Ich bin in der Müssig“, sagen die Leute.

Dieses Jahr ist das Fest groß, größer, der Verein wird 90 Jahre alt. Am Sonntag werden deshalb 25 Blaskapellen aus den umliegenden Dörfern vom Tuniberg, vom Kaiserstuhl, vom Markgräflerland spielend durchs Dorf ziehen. So einen Umzug binde sich doch niemand mehr ans Bein, hätten sie, erzählt einer, zu hören bekommen. „Aber wir haben einfach Bock auf das Fest“, sagt der Rudi, dessen Bruder sterben wird von Sonntag auf Montag. Erwartet. Trotzdem. „Sag einmal, gibt es hier nur schlechte Nachrichten?“, fragt jemand.

Noch ist Freitag. Der Rudi rührt hinter der Theke eine Riesenschüssel vegetarischen Aufstrich an für die, die am Fest keinen Winzerwecken mit Speck wollen. Sein Knie ist bandagiert. Die Kerle mit den breiten Schultern feiern jetzt, weil sie nicht wissen, ob sie in zehn Jahren den 100. Geburtstag des Vereins noch so stemmen können. Viele sind weit über fünfzig. Und der Tommi, seit 30 Jahren im Vorstand, er, das Alphatier, Versicherungskaufmann und Hobbywinzer, träumt statt von Verantwortung von einem Wohnmobil. Niemand glaubt’s. Auch seine Frau hat Zweifel.

Nebenschauplätze: zwei junge Zuschauer und zwei junge Musikerinnen von der Blaskapelle Merdingen Foto: Eric Vazzoler

Dörfer sind Rätsel. Wenn es gut läuft, hält etwas sie zusammen. Was? „Dass man füreinander einsteht“, sagt einer zwei Tage später, als das Fest in vollem Gang ist, als der Sound der Bands und Kapellen zu laut über die Lautsprecher dröhnt. Er ist nicht im Verein, stand aber Stunden am Abwaschwagen, räumte dreckige Teller in die Spülmaschine ein und nach ein paar Minuten sauber wieder aus und isst jetzt Schnitzel mit Pommes – der Dank.

Er sei kein Gruppenmensch, sagt er, halte sich aus allem raus. Jetzt hilft er doch. Sein Elfjähriger ist in der Jugendkapelle, seine Frau wollte was beitragen zum Fest. Sie verletzte sich, da ist er ein- und über den Schatten gesprungen.

300 Leute werden gebraucht, um das Fest zu stemmen, sagt der Müller-Thomas. Am Ende sagt er, er bekam Unterstützung von überall her – sogar aus Nachbardörfern. „Mensch, über Dörfer wird doch nur geschrieben, wenn was schiefläuft“, grätscht einer aus der Runde ins Gespräch, „Krawall in Schorndorf, ich lach mich tot.“ Der daneben: „Das ist doch gar kein Dorf, das ist 50-mal größer als wir.“ „Jetzt übertreibst du“, meint ein Dritter.

Nicht nur Manpower wird gebraucht

Nach den Helden kommen die Musikerinnen. Sie putzen, dekorieren, schneiden Berge von Zwiebeln, Berge von Fleisch. Kuchen werden in allen Küchen gebacken. Weil der Musikverein früher ein Männerding war, sind es mehr Jüngere, die helfen. Sie heißen mal Carina, mal Cathrin, Christine, Anja, Vera, mal anders. Die Vera, gerade 18, gerade Abitur, ist dabei, nach dem Leben zu greifen. Selbstbewusst lacht sie über sich, kokett dreht sie Rollen um, „Hey, Jonas, komm mal her“, „Hey, Dominik, komm mal her“.

Die Jungs sind irritiert. Mit einem Bein steht sie schon in der Welt, ist aber noch im Dorf, das sie wunderschön findet, obwohl es nur heiß in der Sonne liegt. Der hohe Kirchturm hebt sich grell vom dunklen Blau des Schwarzwaldes ab. Nicht lange sei es her, dass sie von der Jugendkapelle in den Musikverein wechselte.

„Unser Dilemma“, sagt der Müller-Thomas, der Vorstand, „erst bildet der Verein die Jugendlichen aus, und wenn sie gute Musiker sind, machen sie Abitur, gehen weg, studieren.“ Ob sie zurückkommen, wer weiß. „Der Zwang zur Mobilität zerstört im Grunde unsere Kultur.“ Denn ohne die Jüngeren geht es nicht weiter. „Das ist die Herausforderung“, sagt der Vorstand. Herausforderung ist auch, dass die Jungen an vielem kratzen – unter anderem am Repertoire. Marsch, Polka. „Da geht noch was“, sagt die Cathrin. Bald zieht sie nach Freiburg.

Musikvereine sind „Visitenkarten der Gemeinden“, sagt der Vorstand, am Samstagabend, als eine Band zum Einstimmen spielt. „Wir werden zuerst gefragt“ – bei Beerdigungen, bei Ehrungen, bei Festen. „Jemand ruft an, fragt: Könnt ihr kommen?“ Groß abstimmen mit den 53 Aktiven könne man das oft nicht. „Und klar, Entscheidungen werden auch mal nach der Probe beim Bier getroffen.“

Musikalisch: die Blaskapelle zieht am so hohen, so hellen Kirchturm vorbei Foto: Eric Vazzoler

Eine der Frauen, die Carina, 27, Fachangestellte für Sozialhilfe und Klarinettistin, ist auch im Vorstand. Sie hadert mit den Strukturen. Der Müller-Thomas selbstkritisch: „Man muss aufpassen, dass man die Jungen in der Verantwortung nicht verheizt, aber du kannst so einen Verein nicht ohne Hierarchie zum Laufen bringen.“ Trotzdem: „Den Generationenwechsel, den müssen wir schaffen.“

Beim Fest kann er sich nicht beklagen, auch die Jungen schuften: der Dominik, die Elena, Hannah, Carina, der Raphael, Felix, Jonas, viele mehr. Sie sind die Azubis der Verbundenheit. „Man darf das doch nicht unterschätzen: So ein Verein stabilisiert auch Leute, die sozial in der Luft hängen“, sagt der Vorsitzende. Und: Die Gemeinschaft kann ein Korrektiv sein.

Der Schalupa sagt es auch. Früher Oberrimsinger, lebt er jetzt in einem anderen Dorf. „In der Müssig“ ist er geblieben. „Wegen der Kameradschaft.“ Sein Daumen kam vor einem Jahr in den Mulcher. Die Ärzte haben ihm einen Ersatz aus Handmuskel und Armhaut gemacht. Wenn er über den falschen Daumen streicht, kribbelt es nun in der Hand. Er hat die Klarinette umbauen lassen, damit er weiter spielen kann. „Es geht.“

Endlich der Sonntag. Vor dem Umzug ein Gottesdienst auf dem Festplatz. Eine Kapelle spielt Melodien, die fröhlich und getragen sind, wiegend und klar. „Eure Musik war wie eine Predigt“, sagt Werner Bauer, seit sechs Jahren ist er Pfarrer in Breisach, der Stadt, zu der das Dorf gehört. „Bleibt sitzen, aber erhebt eure Herzen.“ Und dann lobt er, was das Dorf aufgebaut hat, und hebt die, die vor 90 Jahren den Verein gründeten, in den Rang des Sämanns, dessen Saat mal auf fruchtbaren Boden fällt und aufgeht, mal auf steinigen und verdirbt.

Eine andere Zeit

Ein Gleichnis aus dem Evangelium ist es. Es klingt, als wolle der Pfarrer den Schillinger-Josef ansprechen, der ganz links mit der Klarinette auf dem Gründungsfoto aus dem Jahr 1927 abgebildet ist. 19 Jahre war er da. Und später: „Ein SS-Mann schlimmster Sorte“, wie der Breisacher Bürgermeister Oliver Rein nach der Messe beim Vesper erklärt, denn der Pfarrer wusste von Schillingers Existenz doch nichts. Der Schillinger hat in Auschwitz Menschen in die Gaskammer getrieben.

„Hätte ich es gewusst, hätte ich es vielleicht sogar in die Predigt aufgenommen“, sagt der Pfarrer. Nicht um jemandem Vorwürfe zu machen, sondern um zu zeigen: Geschichte kann Warnung sein. Wichtig sei doch, dass Menschen zusammenwirken und etwas aufbauen. „Dabei können sie nicht wissen, was daraus wird“, meint der Pfarrer, „heute aber ist der Zusammenhalt segensreich.“ Und der Bürgermeister sagt: „Damals war eine andere Zeit.“

Während die Honoratioren noch unter den Kastanien speisen, stellen die Leute schon Stühle an die mit Fahnen geschmückten Straßen. Einer an der Ecke zur Großgasse hat eine Flagge aufgehängt. Die Farben in Blöcken aufgeteilt, (wie bei der belgischen), und nicht in Streifen. Egal.

An der Kirche vorbei zieht der Umzug, dann die Bundesstraße hoch, wo das Rathaus und die Wirtshäuser sind, der Hirschen, der Löwen, und wo sich das Dorf auf ein paar Metern verdichtet, weiter über den Schneckenweg in die Kleingasse und von da in die Großgasse zum Schlossgarten. Vorneweg ein paar Reiter. Kinder tragen Tafeln mit den Namen der Ortschaften, aus denen die Kapellen kommen, Munzingen, Niederrimsingen (nur ein Acker trennt das obere vom unteren Dorf), Ihringen, Merdingen, Wasenweiler und noch zwanzig weitere.

Gemeinschaft: am Tisch sitzen die alten Musiker, im Hintergrund vergnügen sich der Bruno, der Rudi, der Didi, der Wolfi und in ihrer Mitte die Claudi Foto: Eric Vazzoler

Im Takt gehen die Musizierenden die Straßen entlang. Die eine Kapelle spielt in den Rhythmus der nächsten, von links kommt ein Marsch, während rechts die Musiker und Musikerinnen noch spielend um die Ecke schwenken, ein Klangteppich mit Dissonanzen entsteht – die dritte Musik. Hört ein Blasorchester auf, wird das andere stärker und von Weitem der hohe Ton einer Klarinette. Die Zuschauer an der Straße winken, applaudieren in der Sonne. Die Hannah, eine junge Flötistin, wird später sagen: „Gänsehautfeeling“.

„Ich hab die Stimmung im Dorf schön gefunden“, meint eine, die den Zug in der Großgasse verfolgte. „Ich habe mit Leuten geredet, die mich vom Sehen kennen, aber nicht einordnen konnten“, erzählt eine andere. „Jetzt fragten sie und ich sagte, ich bin dem Dockweiler Gerd seine Frau.“ Plötzlich sei alles ganz leicht gewesen. „Wenn man dann hört, dass jemand krank ist oder sonst was passiert ist, spürt man die Anteilnahme. Das hat mich gerührt, das sag ich jetzt nicht nur so.“ Und die Frau vom Menner Bruno sagt: „Es ist nicht mehr so kleinkariert wie früher, wo jeder auf jeden geguckt hat.“

Was beim Umzug die ineinanderfließende Musik ist, sind im Garten die vielen Stimmen. Allein 750 Musiker sind jetzt da, dazu die Rimsinger und „weiß der Gott wer noch“. Und immer wieder: „Toll, dass das Wetter mitmacht.“ Die Liesel sagt, „das Dorf ist meine Heimat“. Dass es größer wird, weil die Dörfer westlich vom Schwarzwald wachsen, irritiert sie nicht.

„Mehr Hund als Kinder“

„Ich kenne viele Neubürger, ich schwätz sie auch an. Viel’ sind mit Hund.“ Ein anderer: „Mehr Hund als Kinder.“ Und die Liesel: „Nein, es gibt auch Kinder.“ In der Feuerwehr seien viele Junge, sagt jemand. Man erkenne sie nur, wenn man das Familienmodell in ihren Gesichtern ablesen kann. Ob es ein Ott ist, ein Zeller, Weismann, Müller.

„Ich find’s schön, dass Leute aufs Fest kommen, die sich sonst nicht so einbringen“, meint eine und jemand erzählt vom Urlaub am Cap d’Agde, jemand vom Bodensee. Zugezogene reden darüber, wie sie anfingen, das Dorf zu mögen. Die Alten sagen: „Schön, dass ich es noch erlebe.“ (Dem Pi, erfährt man, geht es auch wieder besser.) Musiker aus anderen Dörfern meinen, „so ein Fest hält die Vereine zusammen“.

Das Generationenproblem teilen alle Kapellen. „Ist ja auch nicht mehr wie früher, wo es nichts gab außer dem Musikverein und Fußball.“ Über Politik wird selten etwas gesagt, hitzig soll’s nicht werden, man weiß, wo wer steht – und der Kretschmann sei in Ordnung, „der könnte bei uns mitspielen“, sagt einer.

Gute Laune: Die Kastanien im Schlossgarten von Oberrimsingen spenden Schatten und sorgen auf dem Dorffest für Verbundenheit Foto: Eric Vazzoler

Als viele der Alten schon nach Hause gegangen sind, sitzen Teenager an den Biertischen, alle schauen auf ihre Handys, über ihnen der Lautsprecher, aus dem nun Andrea-Berg-Hits in Wiederholungsschleife laufen, „ich werde lächeln, wenn du gehst“, die Lautstärke kaum gedrosselt bis zwei Uhr nachts.

Am Dienstagabend sitzen zwei Dutzend Männer und Frauen im Schlossgarten, „fertig, aber glücklich“, wie einer sagt. Den ganzen Tag über haben sie alles wieder abgebaut. Der Vorstand zieht Bilanz: 2.500 Liter Bier. 600 Kilo Pommes. 300 Kilo Steak. 150 Kilo Rindfleisch. Alles weg. Keine Streitereien, kein Alkoholdebakel.

„Wird im Artikel auch mal gelacht?“, fragt eine und wiederholt den Witz, den die Ursel erzählt hat. 81 ist sie, ihr Vater gründete den Verein mit: „Gehen zwei Männer im Sonnenaufgang nach dem Fest schwankend nach Hause zu ihren Frauen. Sagt der eine: 'Ach, wenn die Predigt doch schon vorbei wär.“

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