Ein Bohème-Roman: Sehnsucht nach Montparnasse
Ein Schweizer Verlag legt Michel Georges-Michels kurzweiligen Szeneroman "Die von Montparnasse" neu auf und erinnert so an die vor Kreativität strotzende Bohème in Paris um 1920.
Die Malerei sei stärker "als die Liebe, die Religionen, stärker als der Hunger", sagt Modrulleau. Vor ihm steht ein Journalist, einer, der es gewagt hatte, die Künstlerkolonie von Montparnasse in einem Artikel anzugreifen. Die Szene entspringt dem Roman "Die von Montparnasse" von Michel Georges-Michel. Die Erzählung machte den Journalisten und Maler bei seiner Erscheinung in den Zwanziger Jahren schlagartig bekannt. 1931 erschien im Berliner Paul Neff Verlag die erste deutsche Ausgabe. Danach verschwand die Pariser Szenestudie von der literarischen Bildfläche. Der Ende 2009 in Zürich gegründete Verlag Walde+Graf hat nach der Übersetzung von Marcus Seibert Michel Georges-Michels "Die von Montparnasse" neu aufgelegt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog der Hügel Montparnasse auf der Rive Gauche der Seine Künstler und Intellektuelle aus aller Herren Länder wie ein urbaner Magnet an. Apollinaire und Picasso, Miró und Beckett, Gertrude Stein und Hemingway: Die Liste der hier kunst- und kulturschaffenden Köpfe ist lang. Neben diesen schon zu Lebzeiten Erfolgreichen gab es ebenso viele verarmte und hungernde Kreative, deren Erfolg sich oft erst nach einem elenden Sterben am Rande der öffentlichen Wahrnehmung einstellte.
Der Maler Amedeo Modigliani war einer von ihnen. Er muss schnell das Interesse von Michel Georges-Michel geweckt haben, denn der Roman "Die von Montparnasse" lässt sich durchaus als Biografie der außerordentlich produktiven letzten Lebensjahre des 1884 geboren und 1920 an Tuberkulose gestorbenen Italieners lesen. Auch wenn der Autor im Vorwort auf den fiktiven Charakter seiner "Kunstfiguren" hinweist, sind die Bezüge zu den lebendigen Vorbildern eklatant.
Die "Kunstfigur" Modiglianis tanzt wie ein Schatten, mal munter, mal betrübt, über die 231 Seiten des Buchs. Bettelarm lässt sich der Maler auf Vermittlung seines Freunds Zobrowski von einem Kunsthändler ausbeuten und arbeitet für Spottpreise an Skizzen in dessen Keller. "Ich bin sein Arbeiter. Er gibt mir meinen Lohn. Der Rest, der Traum, der dahinter steht - den leiste ich mir auf eigene Rechnung", sagt Modrulleau nüchtern.
Georges-Michel zeichnet ihn als zwanghaft-besessenen Charakter, der trotz fortwährender Materialknappheit, dem Hunger und der Überheblichkeit seiner wechselnden Gönner widersteht. Als Leitmotive gibt der Autor seinem Protagonisten die Liebe und den festgehaltenen Moment mit. Romantisch, gelegentlich auch pathetisch verklärt mutet das an, wobei der Vorwurf der Kritik, Modigliani sei durch Georges-Michels Darstellung überhöht worden, aufgesetzt erscheint. Ein Bohème-Roman darf dies leisten, und angesichts des zügellosen ausschweifenden Charakters der Mitternachtsgesellschaften von Montparnasse muss er das sogar. Georges-Michel hat diesen Roman kurzweilig, unterhaltsam und ohne Längen geschrieben, das macht ihn auch jetzt äußerst lesenswert. Nicht zuletzt, weil das Montparnasse von damals mit dem heutigen kaum noch übereinstimmt.
In dem Buch steckt eine Ahnung, die Modrulleau ganz treffend jenem moralinsauren Journalisten an den Kopf wirft, der ihn einst verkannte - die Pest von Montparnasse: "eine nicht bekämpfbare, seuchenartige Sehnsucht nach diesem Ort, der im Augenblick einer der interessantesten auf dem Erdball ist".
Michel Georges-Michel: "Die von Montparnasse", Walde+Graf, Zürich 2010. 232 Seiten, 19,95 Euro
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