piwik no script img

Ein Angebot von uns an alle

In Bramsche bauen Anthroposophen an einem Kindergarten – nicht als Selbsthilfe, sondern gerade auch für die Kinder nicht anthroposophischer Eltern  ■ Von Lars Reppesgaard

Wenn es nach Dieter Pommerening geht, sollten die Zeiten vorbei sein, in denen Anthroposophie nur in abgeschotteten Zirkeln gelehrt und gelebt wird. Waldorfpädagogische Ideen gehören für ihn mitten in die Gesellschaft. Deshalb entsteht unter seiner Regie derzeit im niedersächsischen Bramsche bei Osnabrück ein ganz besonderer Kindergarten.

„Wir nennen uns noch nicht Waldorfkindergarten, denn die Geschichte hier ist eine andere als anderswo“, erklärt Pommerening. Der Anthroposoph ist nicht nur Vorstandsmitglied des Sozialwerks Evinghausen, dem Freien Träger des Kindergartens, sondern auch im Vorstand der Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten. Aus Erfahrung weiß er, „daß Waldorfschulen und -kindergärten leider oft nicht alle Eltern anziehen, sondern eine Elite“. In der Regel sei das Entstehen einer solchen Schule oder eines Kindergartens die Folge meist finanzstarker Elterninitiative. „Dieser Kindergarten aber ist ein pädagogisches Angebot von uns an die Stadt, die das sehr begrüßt hat.“

Im Bramscher Stadtteil Hemke reihen sich rasch hochgezogene, frisch verklinkerte Einfamilienhäuser aneinander. Die meisten Auffahrten bestehen noch aus Sand und Kies. Hier im Neubaugebiet wohnen sehr viele russische Spätaussiedler. Deutschlands zweitgrößtes Grenzdurchgangslager Bramsche-Hesepe liegt nur wenige Kilometer entfernt, und der „Kindergarten auf dem Vogelbaum“ wendet sich deshalb bewußt auch an die Aussiedler. „Diesmal sind wir zu den Eltern gekommen, anstatt darauf zu warten, daß sich jemand für Waldorfpädagogik interessiert“, erklärt Pommerening. „Die erste Schule vom Rudolf Steiner war schließlich auch für Arbeiterkinder.“

Seit dem 1. September besuchen 18 Knirpse den elegant an einen Hügel plazierten Kindergarten. Nach Abschluß der Bauarbeiten im nächsten Jahr ist dann Platz für drei Gruppen mit insgesamt 75 Kindern. Auch ein „kommunal nutzbarer Mehrzweckraum“ soll dann für die Menschen im Stadtteil offen sein.

„Wir fühlen uns hier sehr, sehr wohl“, sagt die Kindergartenleiterin Fredda Rubbel. „Vormittags halten sich die Handwerker mit dem Bohren zurück. Dann merkt man hier kaum was von denen“, berichtet sie und schließt die Tür, während draußen weiter der Wind durch den Rohbau pfeift. Bislang sind fünf Aussiedlerkinder in die erste Gruppe integriert. „Die Eltern wohnen in der Nähe. Denen gefällt das, was hier läuft.“

Die frischgebackene Leiterin ist selbst Aussiedlerin und spricht Russisch ebenso fließend wie Deutsch. Die Architektur begeistere die Rußlanddeutschen, sagt sie, aber auch die Ordnung und die freundlichen Farben. „Für die ist das genau richtig“, meint die Pädagogin. Das Waldorf-Regelwerk biete Halt und Werte für Menschen, die sich auf einmal in einer völlig ungewohnten Umgebung wiederfinden. Oder, wie Pommerening es ausdrückt: „Die sind noch nicht so verbildet.“ Daß die rußlanddeutschen Eltern nur im Ausnahmefall wissen, für welche Werte Waldorfpädagogik oder die Anthroposophie insgesamt stehen, müssen allerdings beide einräumen.

Auch die Bauleitung ist fest in anthroposophischer Hand. Bauherr und Träger des Kindergartens ist das Sozialwerk Evinghausen, ein Verein zur Förderung der Waldorfpädagogik. Gebaut wird ökologisch – und ökonomisch: 1,6 Millionen Mark soll die Stadt für den Kindergarten bezahlen. „Sonst kostet so ein Gebäude mehr als zwei Millionen,“ sagt Pommerening.

Den Zeitpunkt für ihren Schritt nach draußen haben die Anthroposophen gut gewählt. „Als wir wegen des Inkrafttretens des Kindertagesstättengesetzes in Niedersachsen vor drei Jahren Träger für drei neue Kindergärten suchen mußten, war klar, daß die Kirchen dafür wohl nicht zur Verfügung stehen“, erklärt Wolfgang Furche vom Schulamt Bramsche, „und auch im Sinne der Trägervielfalt waren uns freie Träger sehr recht.“ Berührungsängste habe man auch nicht gehabt. „Schließlich gibt es in Bramsche schon lange einen anderen Waldorfkindergarten.“

Das Bauland stellt die Stadt zum Nulltarif zur Verfügung, ein Defizitvertrag regelt die Finanzen. Wenn Elternbeiträge und Landeszuschüsse nicht ausreichen, trägt die Stadt die übrigen Kosten. „Das ist für uns noch immer billiger, als eigene Kindergärten aufzubauen“, sagt Furche.

Zudem entlasten die Anthroposophen den Sozialtopf der Stadt noch auf andere Weise: Schon seit 1982 können sich arbeitslose und benachteiligte Jugendliche bei der Freien Berufsbildungsstätte „Die Brücke“ auf Grundlage der Waldorfpädagogik weiterbilden und auf einen Beruf vorbereiten. Auch beim Kindergartenbau waren sie aktiv.

Nur Firmen, die mindestens zwei bei der „Brücke“ ausgebildete Aussiedler mitbeschäftigten, durften mit Aufträgen rechnen. „Ich halte nichts davon, Leute einfach so zu alimentieren. Der Mensch muß gebraucht werden“, erklärt Bauleiter Michael Kaufmann die Überschneidung von Anthroposophie und neoliberaler Arbeitsmarktpolitik.

Für ihn ist das Projekt eine Chance, seine Leute durch Praxis zu qualifizieren. Zu lernen gibt es für angehende Handwerker schließlich eine Menge, wenn nach Steinerschen Architekturvorstellungen gebaut wird: „Jedes Brett hat ein anderes Maß“, sagt Kaufmann, als er im Gruppenraum stolz nach oben zeigt. „Wer so eine Decke hinbekommt, kann auch auf konventionelle Art bauen.“

Bislang haben 40 Aussiedler Fliesenlegen, Dachdecken und Mauern gelernt – ohne rechte Winkel natürlich, aber auch, so versichert der Bauleiter, ohne daß ihnen dabei eine Weltanschauung gleich mit untergejubelt würde. „Hier soll keiner geimpft werden. Wir arbeiten natürlich auf dem Hintergrund eines Menschenbildes, aber was am Ende mitgenommen wird, läßt sich nicht wiegen, messen oder anfassen.“

„Für uns ist deshalb wichtig“, ergänzt Dieter Pommerening, „daß jeder sieht, was am Ende bei unserer Arbeit rauskommt.“ Und: „Es hat sich viel geöffnet, weil man uns in der Gemeinde mittlerweile abnimmt, daß wir uns nicht nur um unsere eigenen Nöte kümmern.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen