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Ein Abend für Françoise CactusOh Oh Françoise

Im SO 36 wurde der 60. Geburtstag der vor drei Jahren verstorbenen Françoise Cactus gefeiert. Eine Erinnerungsrevue war es nicht.

Da war sie noch sehr jung. Die 2021 verstorbene Françoise Cactus Foto: privat

Françoise Cactus ist im Februar 2021 verstorben, viel zu früh, wie man so sagt. Was eine eher doofe Floskel ist, weil sie irgendwie mitmeint, es gäbe ein „viel zu spät“ oder auch ein „gerade noch rechtzeitig“. Aber hier stimmt es dann einmal, einfach weil ein Tod noch einmal besonders skandalös wirkt, wenn eine/r mitten rausgerissen wird aus dem prallen, gelungenen Leben. Elfriede Jelinek hat das in ihrem Nachruf auf Christoph Schlingensief mit wohl tiefem­pfundenen Pathos sehr schön beschrieben: „Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre.“

Pathos muss nicht sein bei einem Künstler:innenleben, dessen Prot­ago­nis­t:in­nen sich die Künst­le­r:in­nen­na­men Kaktus und Brezel geben. Aber der Jelinek-Satz trifft dann hier doch auch. Denn die Texte und die Musik, die Françoise Cactus zusammen mit ihrem Partner Brezel Göring als Stereo Total von 1993 bis 2021 auf über 15 Alben gemacht haben, sind radikal lebendig, kommunizieren Spaß mit dem eigenen Körper und den Körpern der anderen, sind lustig und (was ja selten ist, wenn es im deutschsprachigen Pop lustig wird) nie blöd, sondern von einer strahlenden Intelligenz, die viel weiß vom Leben und von der Liebe und vom Weißweinschorlentrinken.

Es passt dann auch, dass am Sonntag im SO 36 nicht ein Todestag begangen, sondern ein Geburtstag gefeiert wurde. Françoise Cactus wäre am 5. Mai sechzig Jahre alt geworden, und alle kamen. Der ausverkaufte Abend begann mit einem zwanzigminütigen Film mit dem dann auch gleich wunderschönen Titel „Françoise hätte gesagt: Schmeiß das weg!“ Wolfgang Müller, früher Tödliche Doris, heute unter anderem Elfenbeauftragter, erinnerte per Videoschalte an Françoise Cactus’ Häkelpuppe Wollita, eine Lolita-Figur aus Stoff, die die skandalverliebte B.Z. nach einer Ausstellung in Wallung versetzte.

Das Buch

Françoise Cactus: „Oh Oh Mythomanie. Erlebtes, Erinnertes & Erlogenes“. Ventil Verlag, Mainz 2024, 288 Seiten, 25 Euro

Dann Musik. Brezel Göring hatte, auch wenn er in der performativ besoffenen Moderation behauptete, er hätte die Künst­le­r:in­nen nach Körpergröße ausgewählt, eingeladen, was im Geiste von Françoise Cactus oder in Wahlverwandschaft musiziert. Nicht, weil es klingen würde wie Stereo Total.

Trash und Feminismus

Es ist dann doch etwas ungreifbarer und vielfältiger: eine Mischung aus Trash-Ästhetik, ausdrucksstarkem Feminismus, weirdness, Freude an Verkleidung und Verwandlung, Lust an interessanten Fehlern und Unwägbarkeiten, LoFi-Pop-Krach und Angriffslust ohne Dumpfsinn. Alles, was mindestens drei der Eigenheiten mitbringt, kann bei einer Geburtstagsfeier von Françoise Cactus auftreten, so stell ich mir das vor.

Françoise Cactus Foto: privat

Schön auch, wie hier Sachen, die es schon seit damals, also bereits im seligen Westberlin gab, auf junge Acts folgten und umgekehrt. Und sich so ja eigentlich auch eher doofe Kategorien wie Alt und Jung in verdienter Leichtigkeit auflösten. Das Duo Die fremden Hände spielte wunderlichen Electro, als letzter Act gab es den ersten Auftritt von Cobra Killer seit dreizehn Jahren. Alles wie damals, Digital Hardcore und Rotwein übern Kopf gießen. Aber in der Verbindung mit dem Line-up, sonst war da nichts Nostalgisches.

Das gleiche mit Pyrolator, Khan of Finland, Andreas Dorau und Felix Kubin: Zusammen mit Acts wie eben Die fremden Hände, Sharizza feat. Moped oder Bekla and the Bizarre entstand im SO 36 keine Erinnerungsrevue sondern eine Art ausdauernd überschießendes Trashpop-Kontinuum.

Texte und Zeichnungen aus dem Nachlass

Am Tag des Konzertes ist im Ventil Verlag außerdem „Oh Oh Mythomanie“ erschienen, ein Band mit Texten und Zeichnungen aus dem Nachlass von Françoise Cactus. Zu lesen sind unter anderem Auszüge aus dem unveröffentlichten Roman „Lebenslänglich 14“.

Auch sehr schön in diesem Zusammenhang, also in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Erwachsenwerden immer noch nicht zu Unrecht mit Entlebendigung und Dämpfung assoziiert wird, ist der in „Oh Oh Mythomanie“ zu findende Songtext „Für immer 16“: „Ich bin nicht wirklich eine Frau/Ich verstehe nichts vom Leben/Für mich ist alles ein Traum/Ich möchte niemals wach werden/Ich will bleiben.“

Brezel Göring hat sich in einem Interview mit dem Zündfunk zur Ankündigung der Geburtstagsparty seiner Partnerin im Leben und der Kunst noch einmal verabschiedet: „Schade, dass du weg bist, ich hätt dir gerne noch öfter zugehört.“ Das geht sehr vielen so, und der Abend für Françoise Cactus im SO36 war ein Abend voller Liebe.

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