Ehrung: „Es fehlt der politische Wille“
Seit 23 Jahren leitet Birgit Müller die einzigartige Redaktion der Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt. Nun bekommt sie das Bundesverdienstkreuz.
taz: Frau Müller, sind Sie überrascht, dass Sie für Ihre Arbeit als Chefredakteurin von Hinz & Kunzt das Bundesverdienstkreuz bekommen?
Birgit Müller: Ich habe nie damit gerechnet. Als ich den Brief öffnete, dachte ich, das ist nicht ernst gemeint. Aber ich freue mich und habe ganz unhanseatisch entschieden, das anzunehmen. Es ist ein Preis für das Projekt. Er gehört auch dem Team und den Verkäufern.
Wer hat Sie vorgeschlagen?
Der frühere Kunsthallenchef Uwe Schneede. Wir kennen uns kaum. Aber wir waren häufiger mit Obdachlosen in der Kunsthalle. Wir haben dort Führungen bekommen, und die Hinz & Künztler haben gesagt, welche Bilder sie sich warum aufhängen würden.
Wie kamen Sie zu Ihrem Job?
Oh, das ist 23 Jahre her. 1993 hatte Stephan Reimers, der damalige Leiter der Diakonie, die Idee einer Zeitung, die Journalisten schreiben und Obdachlose vertreiben. Ich bekam 20 Stunden auf Honorarbasis – und war glücklich, dass ich mitmachen durfte.
Gab es Berührungsängste?
Komischerweise nicht. Unser kleines Team bestand zur Hälfte aus Leuten, die abends wieder auf Platte gingen. Wir Journalisten sind wieder in unsere Wohnungen. Das war komisch. Aber später sagten die obdachlosen Kollegen, das sei gut so gewesen. So wären wir auf Augenhöhe geblieben.
Schreiben Obdachlose auch?
Selten. Es war klar, die Obdachlosen machen den Vertrieb, wir Journalisten das Magazin. Wir wollten gut recherchierte Geschichten und mit dem, was wir schreiben, ernst genommen werden. Heute haben wir die Sozialarbeit und weitere Bereiche. Von den 27 Köpfen sind 13 ehemalige Obdachlose.
Hat sich die Lage der Obdachlosen in 20 Jahren verbessert?
Nein, verschlechtert. Als wir anfingen, forderten wir Wohnungen für Obdachlose und haben es empört abgelehnt, Container aufzustellen. Heute sind Container schon fast Luxus – und wir kämpfen dafür, dass Menschen unter einer Brücke Platte machen dürfen. Das Elend ist größer geworden.
Also treten Sie auf der Stelle?
Es fehlt der politische Wille, Obdachlosigkeit strukturell zu beenden.
Was müsste passieren?
Wer in Hamburg in eine Unterbringung kommt, wird dort nur verwahrt. Es passiert dort nichts. In München gibt es spezielle Häuser für Menschen, die Arbeit suchen oder für Menschen mit Suchtproblemen. Oder für ältere Obdachlose. Das Angebot müsste differenzierter sein. Das reiche Hamburg könnte sich das leisten.
Was würde das kosten?
Das weiß ich nicht. Aber derzeit haben wir das Winternotprogramm – wenigstens! Aber es ist ein Provisorium. Und Provisorien sind immer teuer. Und dann müssen die Obdachlosen auch noch tagsüber raus …
Mit Ihrer Online-Petition für die Öffnung des Winternotprogramms am Tage haben Sie die Sozialsenatorin nicht erweicht.
Das stimmt, leider.
Aber jetzt kommt die Tagesstätte Friesenstraße. Ein Trost?
Es sind dort 100 Plätze mehr, das reicht schon rechnerisch nicht aus. Es bleibt dabei: Die Leute dürfen nicht einfach drinnen im Warmen bleiben.
Man sieht auch Leute auf der Erde schlafen. Das ist traurig.
Das macht mir auch etwas aus. Wir brauchen kleine, dezentrale Unterkünfte. Sonst schlafen manche Menschen lieber auf der Straße.
Zweifeln Sie schon mal am Sinn Ihrer Arbeit?
Ja, aber zum Glück sind wir ein taffes Team. Und wir versuchen, die positiven Seiten nicht zu vergessen: dass sich vielleicht auch durch uns der Blick der Hamburger auf die Obdachlosen verändert hat, weil sie die Verkäufer kennen. Da sind Freundschaften entstanden, sogar Ehen. Uns macht Mut, dass wir immer wieder aus der Bevölkerung viel Hilfe erfahren.
Zum Beispiel?
Eine Leserin hat uns ihr Elternhaus zur Miete angeboten, jetzt wohnen dort fünf Hinz & Künztler, die früher unter der Kennedybrücke Platte gemacht haben. Der Flughafen will Flaschensammler per Anzeige vertreiben, wir protestieren dagegen. Jetzt machen wir ein gemeinsames Projekt. Wir versuchen immer, ins Gespräch zu kommen. Ein Happy End ist viel schöner, als ewig auf einem Missstand herumhacken zu müssen.
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