Ehrung für syrische Oppositionelle: Seit einem Jahr verschleppt
Vier syrische Oppositionelle wurden 2013 entführt und werden seither vermisst – unter ihnen Razan Zeitouneh. Nun erhalten sie den Petra-Kelly-Preis.
BERLIN taz | An der Ecke soll ich warten. Und Razan Zeitouneh ist pünktlich. Nach einem flüchtigen Gruß führt sie mich zu ihrer Wohnung – zügig, zielstrebig und ohne Worte. Zweimal rechts, vorbei an unauffälligen Häuserblocks, parkenden Autos, kleinen Geschäften und den Augen des syrischen Geheimdienstes, der genau beobachtet, wen die Anwältin bei sich empfängt. Meinen Vorschlag, sich wie in Oppositionskreisen üblich im Café zu treffen, hatte sie abgelehnt. Die Staatssicherheit sei ohnehin überall, ungestörter reden könnten wir bei ihr zu Hause.
Es ist Februar 2008 und Syriens führende Oppositionelle sitzen mal wieder im Gefängnis. Zeitouneh gehört zu dem Team von Anwälten, das sie verteidigt – eine ehrenwerte, wenn auch sinnlose Aufgabe. Die Anklagepunkte sind die gleichen wie immer: Verbreitung falscher Nachrichten, Schwächung des Nationalgefühls und Schüren konfessioneller Konflikte. Und auch die Urteile stünden schon fest, sagt Zeitouneh. „Das sind politische Entscheidungen, die woanders getroffen werden, mit einem fairen Gerichtsprozess hat das nichts zu tun.“
Im Oktober 2008 treffe ich Zeitouneh im Justizpalast wieder. Der Gerichtssaal ist übervoll, aber die blonde Anwältin mit den blauen Augen fällt auf. Eingepfercht in einen Käfig, nehmen die Angeklagten ihr Urteil entgegen, zweieinhalb Jahre Haft. Damals ahnt keiner, dass die zwölf Oppositionellen pünktlich zum Beginn der syrischen Revolution im März 2011 freikommen würden.
Die friedlichen Proteste sind für Razan Zeitouneh ein persönlicher Wendepunkt. Jahrelang hatte sie politische Gefangene – darunter viele Islamisten – vor Gericht vertreten. Sie hat Menschenrechtsverletzungen des Regimes in einer Internetdatenbank dokumentiert und war dafür mit Verhören und einem Ausreiseverbot schikaniert worden.
Der Preis: Mit dem Preis würdigt die Heinrich-Böll-Stiftung alle zwei Jahre Menschen und zivilgesellschaftliche Vereinigungen, die sich besonders für die Achtung der Menschenrechte, das gewaltfreie Lösen von Konflikten und den Schutz der Umwelt einsetzen. Petra Kelly war Mitbegründerin und Sprecherin der bundesdeutschen Grünen. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. 2012 ging die Auszeichnung an Ales Bjaljazki, einen Menschenrechtler aus Weißrussland.
Die Verleihung: Der Preis wird am Donnerstag 19 Uhr im Haus der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vergeben. Stellvertretend nimmt ihn Orwa Nyrabia entgegen, die Komissarische Direktorin des Zentrums zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen.
Keinen Moment dieser großartigen Revolution verpassen
Jetzt wird aus der Anwältin eine Aktivistin, aus der Verteidigerin eine Vorkämpferin. Die damals 34-Jährige baut die Lokalen Koordinierungskomitees mit auf, die im ganzen Land Demonstrationen organisieren, Informationen über Opfer sammeln und humanitäre Hilfe beschaffen. Ein Traum scheint wahr zu werden, der sich jedoch angesichts von Scharfschützen, Panzern, Raketen und Kampfjets für viele zum Albtraum entwickelt. Während immer mehr Oppositionelle ins Ausland fliehen, besteht Razan Zeitouneh darauf, „keinen Moment dieser großartigen Revolution verpassen“ zu wollen. Es klingt entschlossen, nicht trotzig.
Für den Westen wird die junge weltoffene Frau das Gesicht der Revolution. Sie wird vielfach geehrt: mit dem Anna-Politkowskaja-Preis, dem Sacharow-Preis der EU sowie dem Ibn-Ruschd-Preis. Aber die internationale Anerkennung nützt ihr in der Heimat wenig. Das syrische Fernsehen erklärt sie zur Agentin und Staatsfeindin, Zeitouneh muss untertauchen.
Zwei Jahre lang wechselt sie regelmäßig ihr Versteck, sitzt Tag und Nacht hinter geschlossenen Vorhängen vor dem Computer, ihrem Fenster zur Welt. Sie gibt CNN Interviews per Skype, beschreibt ihre Gedanken in der Zeit und postet auf Facebook die neuesten Nachrichten der Revolution. Weil die Sicherheitskräfte sie nicht zu fassen kriegen, verhaften sie an ihrer Stelle ihren Ehemann und Mitstreiter Wael Hamadeh, der brutal gefoltert wird, aber wieder freikommt.
Es herrscht Aufbruchstimmung
Im April 2013 flüchten die beiden in die östlichen Vororte von Damaskus nach Duma. Die Gegend ist bereits vom Regime befreit, es herrscht Aufbruchstimmung. Die wird jedoch von islamistischen Gruppen zunehmend erstickt. Zeitouneh gründet das Zentrum zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, sie wird zu einer Chronistin der Gewalt, ihre Zahlen gelten als verlässlich.
In Duma trifft Zeitouneh Yassin al-Haj Saleh wieder, einen führenden Intellektuellen des Landes, der nach zwei Jahren im Untergrund in den Norden will, um dort für die Revolution zu arbeiten. Seine Frau Samira al-Khalil, die als langjährige Oppositionelle wie er schon früher inhaftiert war, will ihm später folgen. Zunächst aber hilft sie Zeitouneh dabei, zwei Frauenzentren aufzubauen.
„Die beiden ergänzen sich gut“, erzählt al-Haj Saleh, der inzwischen nach Istanbul geflohen ist. Razan sei aktiv, rastlos und effektiv, Samira ruhig und ausgeglichen. „Razan ist für mich die größte Heldin des Landes“, sagt al-Haj Saleh. Und als 53-jährige Alawitin symbolisiere Samira die Verbindung zwischen den Generationen und Konfessionen in Syrien.
Vielleicht ein Abschied für immer
Hundert Tage verbringt al-Haj Saleh mit dem Team des Dokumentationszentrums in Duma, bis sich ihm am 10. Juli 2013 die Möglichkeit zur Flucht bietet. An jenem Tag sieht er seine Frau Samira und ihre Freunde womöglich zum letzten Mal.
Genau fünf Monate später, am 10. Dezember 2013, überfallen Unbekannte die Räume des Dokumentationszentrums und entführen Zeitouneh, ihren Mann Wael Hamadeh, Samira al-Khalil und den Anwalt und Dichter Nazem Hammadi. Die Solidarität ist groß, national wie international setzen Angehörige, Aktivisten und Politiker alles in Bewegung, um die vier Verschleppten freizubekommen. Vergeblich. Bis heute fehlt jede Spur.
Die Gegend steht damals schon unter der Kontrolle der Armee des Islam, einer Islamistengruppe, die von Saudi-Arabien finanziert wird. Ihr Anführer Zahran Alloush leugnet jedoch, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben. Saleh glaubt ihm nicht. „Wer auch immer sie entführt hat, hat es im Auftrag oder mit Genehmigung der Armee des Islam getan“, sagt er. Duma sei das Zentrum der Armee des Islam, Alloush entgehe dort keine Bewegung. Als bewiesen gilt außerdem, dass Zeitounehs Laptop zwei Tage später im Büro von Alloushs Bruder benutzt wurde.
Sind sie an das Assad-Regime ausgeliefert worden?
Ein Anwaltskollege von Zeitouneh, der anonym bleiben will, traut dem Islamistenführer auch zu, die vier an das Regime ausgeliefert zu haben. „Razan hat Verbrechen aller Seiten dokumentiert und auch das Verhalten der bewaffneten Oppositionsgruppen kritisiert“, erklärt er. Damit habe sie sich Feinde gemacht. Außerdem baute sie zivile Strukturen und eine lokale Selbstverwaltung auf, was den Herrschaftsanspruch der Armee des Islam infrage stellte. Hartnäckig habe sie sich außerdem geweigert, ein Kopftuch zu tragen, erinnert sich ihr Kollege. Alles Gründe, Razan Zeitouneh und die anderen loszuwerden – möglichst ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, schließlich steht die Armee des Islam aufgrund ihrer internationalen Finanziers unter öffentlichem Druck.
Al-Haj Saleh hält einen Deal zwischen der Nusra-Front, dem syrischen Al-Qaida-Ableger, und der Armee des Islam für wahrscheinlich. „Nusra hat die vier für Alloush beseitigt und dafür mehr Handlungsspielraum bekommen“, vermutet der Intellektuelle, ohne jedoch konkrete Beweise zu haben. Die Tatsache, dass es trotz der Bemühungen so vieler Leute seit einem Jahr keine Spur gibt und dass keine Forderungen gestellt wurden, lasse das Schlimmste vermuten, meint Saleh. „Vielleicht sind sie schon lange tot.“
Egal was mit den vieren passiert ist, sie hinterlassen ein Vermächtnis. Sechs Tage vor der Entführung nahm Razan Zeitouneh eine Videobotschaft auf, in der sie die anhaltende Bombardierung und die Abriegelung von Duma durch das Regime verurteilt. 23 Kinder sind bereits verhungert. Die Rechtsanwältin erklärt, der schnelle Tod durch Raketen sei dem langsamen schmerzhaften Sterben durch Belagerung vorzuziehen.
Die Welt schweigt
Das Schweigen der Welt angesichts dieser Verbrechen kann Zeitouneh kaum ertragen. Ausgerechnet sie, die in Europa mit Preisen überschüttet wird, erhebt schwere Vorwürfe gegen den Westen. Nach dem Giftgas-Massaker im August 2013, das sie persönlich miterlebt hat, empfindet sie angesichts der UN-Resolution zur Abrüstung der syrischen Chemiewaffen „Erschütterung und Demütigung“, weil sie Assads Machterhalt impliziert. Für die Syrer würden die grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte offenbar nicht gelten, denn „Assad, der wahre Kriminelle“, sei weiterhin frei, und niemanden interessiere es.
Was würde Zeitouneh heute sagen, wenn sie wüsste, dass Assads Vernichtungskrieg inzwischen nicht nur geduldet, sondern sogar belohnt wird? Dass er zum Partner im Kampf gegen den von ihm genährten IS wird und dass seine Strategie des Aushungerns ganzer Stadtteile, mit der er die Bewohner zur Kapitulation zwingt, zu einem UN-Plan für lokale Waffenstillstände geführt hat?
Appelle seien nutzlos geworden, schrieb Zeitouneh vor einem Jahr. „Der Westen verschließt Augen und Ohren gegenüber den Wünschen und Hoffnungen der Syrer, die so viel in diese Revolution investiert haben.“ Jetzt bekommt Zeitouneh mit dem Petra-Kelly-Preis die nächste Ehrung. So wichtig dieser ist, um an das Schicksal der Entführten zu erinnern – noch wichtiger wäre es, ihre Botschaft endlich zu hören.
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