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Ehrlich gesagt, man sieht keine

Über Farbe und Fleisch der Bathseba. Mit dem blinden Experten Evgen Bavcar vor einem Gemälde Rembrandts  ■ Von Daniel Mermet

Wir sind im Louvre in Paris mit Evgen Bavcar, dem blinden Fotografen. Wir hatten uns vorgenommen, eines Tages zusammen in den Louvre zu gehen, damit ich ihm eine Gemälde beschreiben könnte. Das ist ein eigenartiges Experiment: ein Bild beschreiben. Gewöhnlich sagt man, sieh mal da, ach wie schön, das ist toll, und guck mal hier. Mehr fällt einem nicht ein. Und das ist normal, schließlich ist die Malerei eine stumme Kunst. Wenn die Maler etwas anderes zu sagen gehabt hätten als die Malerei, dann hätten sie es getan. Aber alles, was sie sagen wollten, jedenfalls wenn es sich um große Maler wie Rembrandt und Tizian handelt, ist in der Malerei aufgehoben. Danach gibt es nichts mehr zu sagen, danach ist Stille. Was aber macht man, wenn man einen blinden Freund hat, einen Fotografen noch dazu, um ihm klarzumachen, was auf dem Bild ist?

Daniel Mermet: Haben Sie schon einmal einen Rembrandt gesehen?

Evgen Bavcar: Nein, nie, keinen einzigen. Das ist mir nur beschrieben worden.

Mermet: Aber Sie haben trotzdem eine Vorstellung davon?

Bavcar: Eine Vorstellung schon.

Mermet: Welche Vorstellung haben Sie von Rembrandt?

Bavcar: Schwer zu sagen. Es ist vor allem dieses geheimnisvolle Licht. Ich kann Ihnen das in bezug auf ein sehr berühmtes Gemälde sagen, „Die Nachtwache“. Man sieht diese Leute und zugleich dieses eigenartige Licht, das uns in einen anderen Raum schickt. Für mich gibt es aber nur die Möglichkeit, das Bild von jemandem beschreiben zu lassen, wir treten dann gemeinsam in das Bild ein. Jetzt möchte ich wissen, wie weit wir von dem Bild entfernt sind.

Mermet: Wir stehen ungefähr zwei Meter davor.

Bavcar: Und wie groß ist das Gemälde? Das ist wichtig.

Mermet: Es muß etwa ein Meter vierzig mal ein Meter vierzig groß sein, es ist fast quadratisch.

Bavcar: Ich befrage Sie jetzt nach meiner Methode. Was fällt Ihnen als erstes ins Auge? Wie sehen Sie dieses Gemälde?

Mermet: Das Fleisch, die Haut.

Bavcar: Und warum?

Mermet: Weil es ein Akt von Rembrandt ist: Bathseba von 1654. Rembrandt hat es vier Jahre vor seinem Tod gemalt. Damals war er 48 Jahre alt, also in seiner Reifephase. Er hat für uns eine Frau in ihrer schönen Reife gemalt, in ihrer ganzen Fülle. Was mir als erstes auffällt, ist wirklich die Haut dieser Frau.

Bavcar: Woran erkennen Sie denn Rembrandt? Wenn es die Kunstgeschichte nicht gäbe, könnten Sie mir sagen, woran Sie Rembrandt erkennen würden?

Mermet: Oh, ich glaube, an einem Tuch, das man im Hintergrund sieht. Da ist diese Frau, sitzend, dann ihre schöne Kammerjungfer, die dabei ist, ihr die Füße zu waschen. Ich erkenne Rembrandt daran, wie das Tuch hinten geschlagen ist. Die Verzierungen und das Buntscheckige auf dem Tuch sind sehr materiell: Sie haben Volumen. Es gibt eine zusätzliche Farbschicht, und das ist typisch für Rembrandt. Er benutzte eine zusätzliche Schicht, um das Licht zum Vibrieren zu bringen.

Bavcar: Jetzt würde ich gerne wissen, welche Figuren es gibt und wie sie auf dem Bild verteilt sind.

Mermet: Fast die ganze Leinwand wird von einer Frau ausgefüllt. Es ist Bathseba, sitzend, sie kommt gerade aus ihrem Bad. Sie ist nackt und mit einem Armband geschmückt. Da ist ein sehr leichtes Tuch, ganz offensichtlich, um ihr Geschlecht zu bedecken. In der Hand — wirklich eigenartig — hält sie einen Brief, ein Papier, das in einer Ecke einen roten Fleck hat. Im Halbschatten, fast nicht sichtbar, sitzt eine Frau auf den Knien, die ihr die Füße abtrocknet. Man sieht sie nicht ganz, nur ihren Oberkörper.

Bavcar: Mit dem Halbschatten streifen Sie ein sehr interessantes Thema bei Rembrandt: das Zwielicht. Ich wüßte gern, in welchen Gesten und Details auf diesem Gemälde Sie das Zwielicht sehen.

Mermet: Das Licht ist natürlich das Schwierigste und Eigentümlichste bei Rembrandt.

Bavcar: Woher kommt das Licht?

Mermet: Das Licht kommt nicht von einem Fenster her. Es ist Rembrandts Rätsel. Der Ort auf dem Gemälde hier ist sehr rätselhaft. Vielleicht ein dunkler Flur. Das Licht auf dem Bild ist nicht logisch. Zum Beispiel gibt es ein Fleckchen Licht auf dem Hals der Dienerin, die übrigens einen komischen Hut trägt. Das ist alles. Um die Gegenwart dieser Frau anzuzeigen, gibt es nur diesen einen Lichtfleck. Auf den hinteren Tüchern, die ich Ihnen vorhin beschrieben habe, vibriert das Licht, es ist sehr matt und golden. Auch auf den Tüchern im Vordergrund fängt sich Licht. Aber nur die weibliche Figur ist getränkt von Licht. Ihre Brust ist der leuchtendste Teil ihres Körpers. Logisch wäre es aber, wenn die Beine am hellsten wären. Das Licht breitet sich nicht logisch aus.

Bavcar: Wo ist die dunkelste Stelle des Gemäldes?

Mermet: Links oben, über dem Tuch, das ich Ihnen beschrieben habe. Dort ist eine große, sehr dunkle Fläche, über die man nichts weiß.

Bavcar: Sie haben etwas über die Farben gesagt, die typisch für Rembrandt seien. Welche Farben sehen Sie hier, die kräftiger als andere sind?

Mermet: Ehrlich gesagt, man sieht keine. Man denkt überhaupt nicht an die Farbe, nur ans Licht. Am Anfang war Rembrandt mit den Farben aggressiver, aber später malte er mit dem Licht, er malte sein Licht. Die Farben auf diesem Bild sind dunkel, golden; da ist die Farbe der Haut, dunkelrot ist das Haarband, das ihr in den Nacken fällt. Das Gesicht hat einen prächtigen Glanz.

Bavcar: Erinnert Sie die Frau auf dem Bild an eine schöne Frau, die Sie gesehen haben?

Mermet: Sie hat etwas Mütterliches, sehr Friedliches und Feierliches. Sie wirkt nachdenklich.

Bavcar: Wohin geht ihr Blick?

Mermet: Nirgendwohin. Sie denkt nach. Man könnte denken, sie sehe ihr Kammermädchen an, deren Augen man übrigens nicht erkennt. Man könnte glauben, sie sehe etwa in diese Richtung. Tatsächlich sieht sie aber woanders hin. Man könnte denken, sie habe den Brief gelesen und träume.

Bavcar: Wie ist der Ausdruck ihres Munds?

Mermet: Er trägt ein feines Lächeln.

Bavcar: Ja, ja, das habe ich mir gedacht.

Mermet: Es ist nicht sicher, ich sehe es so. Sie ist eine träumende Frau, in deren Blick vielleicht eine leichte Zärtlichkeit liegt.

Bavcar: Glauben Sie, daß sie sich nackt fühlt?

Mermet: Nein, bestimmt nicht.

Bavcar: Gibt sie sich den Blicken hin?

Mermet: Sie glänzt, sie ist feierlich, sie ist überhaupt nicht gestört von dem Blick, der auf sie fällt. Sie befindet sich im Glanz ihrer Haut.

Bavcar: Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen ihren Händen und ihrem Gesicht?

Mermet: Bei Bathseba? Eine ihrer Hände ist erstaunlich fleischlich, die, auf die sie sich stützt. Die Hand, mit der sie den Brief hält und die auf uns etwas barock wirkt... (bricht ab). Was den Brief angeht, er ist keine Anekdote. Der Brief ist dazu da, eine Geschichte des Nachdenkens entstehen zu lassen. Es gibt Elemente für unsere Träumereien, er gehört dazu, mehr weiß man nicht über den Brief.

Bavcar: Was könnte der Brief für einen Inhalt haben?

Mermet: Natürlich will man erst einmal annehmen, daß es ein Liebesbrief ist. Aber zugleich ist das Ganze ja eingebunden in die Geschichte von Bathseba, von der ich nichts weiß. Es ist gar nicht schlecht, darüber nichts zu wissen.

Bavcar: Ich glaube sogar, daß das besser ist, nicht wahr? Sonst findet man zu schnell irgendwelche intellektuellen Erklärungen, die manchmal langweilig sind. Man muß das Bild ansehen. Ich bin froh, daß Sie mir die „malerischen Tatsachen“ beschreiben. Man hat mir das Bild schon einmal beschrieben, aber Sie beschreiben es anders. Immer gibt es mehrere Blicke. Man muß einen authentischen Blick suchen, der der Materialität des Bildes gerecht wird.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einer Radio-Sendung von Daniel Mermet über Rembrandt, die 'France Inter‘ ausgestrahlt hat. Aus dem Französischen von Ina Hartwig

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