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Anderson ist heute 19 Jahre alt und hat sich von den Drogengangs losgesagt Foto: Veronica Lombeida

Ecuador vor der StichwahlDie Trommlerjungen

Ecuador lässt seine Ärmsten im Stich. Jungen fallen in die Hände von Drogengangs. Trommelgruppen wie in der Großstadt Guayaquil bieten Alternativen.

Katharina Wojczenko
Von Katharina Wojczenko aus Guayaquil

A nderson* kann nicht schlafen. „Ich habe auf Menschen geschossen. Wann werden sie kommen und mich erschießen?“ Es wird zwei, drei Uhr morgens und er grübelt, ob er gehen sollte: „Die Menschen in diesem Haus sind meinetwegen in Gefahr“. Die Menschen – damit meint er die Großfamilie, die ihm und anderen Jugendlichen seit Wochen am anderen Ende der Millionenstadt Guayaquil Zuflucht gibt. Mit „sie“ meint er die Bande aus seinem Viertel Socio Vivienda im Nordwesten, die sich womöglich immer noch an ihm rächen will.

Er sitzt da, tagsüber, neben dem Stockbett im Jugendzimmer, ganz in Schwarz gekleidet, krauses Haar. Um den Hals trägt er eine Silberkette mit einer flachgedrückten Dollarmünze. Auf seinem Bett liegt ein Bügeleisen. „Ich mag meine Kleidung, meinen Schmuck“, sagt der 19-Jährige.

An der Wand hängt ein Boxsack, darunter Hanteln. Im Raum liegt zerknitterte Wäsche zwischen einer Gitarre und Papierkram. Zwei der Söhne der Familie teilen sich seit Wochen das obere Bett, damit er das untere haben kann. Trotzdem ist es jede Nacht dasselbe, sagt er. Ein paar Stunden, mehr geht nicht, dann kommt die Angst.

Mit sieben stahl er zum ersten Mal ein Handy auf der Straße, verkaufte die Beute und brachte das Geld nach Hause, um Essen zu kaufen. „Meiner Mutter sagte ich, ich hätte gearbeitet.“ Er ist der Älteste von sieben Geschwistern. Sein Vater, der oft Frauengeschichten hatte, war nie da. Der Hunger hingegen immer. „Ich war der Ruhige zu Hause“, sagt Anderson.

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Er schloss sich dieser Bande im Viertel an, weil einige Cousins schon dabei waren. Mit 14 patrouillierte er mit einer Maschinenpistole an der Straßenecke. „Dort schätzten sie mich, sagten: Nimm, schieß mal.“ Bald wusste das Viertel, zu wem er gehörte. Als seine Mutter eine Waffe fand, log er, ein Freund habe sie bei ihm gelassen.

Guayaquil, die „Perle an den Flüssen“, ist mit rund drei Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen die größte Stadt Ecuadors. Ihr Hafen, der größte des Landes, macht sie zu einem Knotenpunkt der Drogenrouten an der Pazifikküste. Kolumbien und Peru, die größten Kokainproduzenten, sind Nachbarn. Als der Krieg gegen die Drogen den Fokus auf Kolumbien legte, begann der Boom der Route über Ecuador für den Drogenhandel. Zusammen mit der chronischen staatlichen Vernachlässigung befeuerte das die Gangs. Heute gehört Guayaquil zu den gefährlichsten Städten des Kontinents.

Mit 17 sah er auf der Straße im Viertel zum ersten Mal die Trommelgruppe. „Der Typ sah mich, wie ich in der Ecke stand, drückte mir eine Trommel in die Hand, hörte eine Weile zu und sagte, ich hätte Talent.“ Der Typ war Xavier Moreira, ein Direktor der Batucada Popular, einer Trommlergruppe. Anderson verliebte sich in die Trommeln und traf bald seine heutige Freundin. Die Freundin sagte: Die Waffe oder ich. Sein Bandenboss war selbst Vater. „Ein Mafioso, der nicht wollte, dass seine Kinder wie er werden, sagte er mir. Er sah mein Talent für die Musik und gab mir er eine Chance.“ Heute ist der Boss tot, sagt Anderson.

Blick auf Guayaquil Foto: Veronica Lombeida

Es gab gute Jahre. Seine Bande erpresste kein Schutzgeld wie andere. Nach Überfällen auf ­Banken oder Juweliere kauften sie Spielzeug für Kinder, organisierten Fiestas fürs Viertel, sammelten Spenden für Weihnachten. Sie brachten Sicherheit, die Polizei hingegen brachte Gewalt, sagt er.

Doch dann raubten ihn seine eigenen Leute aus, stahlen seinen Schmuck und gaben ihn nicht zurück. Warum? „Aus Neid“, glaubt er. Anderson ging daraufhin zur Konkurrenz. „Da wollten sie mich umbringen.“ Fast hätte ihn ein Cousin erschossen. Er nahm eine Zeitlang Drogen. Das war teuer.

Ob er jemanden getötet hat, weiß er nicht. Aber er hat geschossen.

Vergangenes Jahr stieg er aus. Jetzt kann er kaum schlafen, obwohl er in diesem Haus sicher ist. Und er weiß: „Ich darf nicht nach Socio Vivien­da zurück.“

Socio Vivienda, im Nordwesten von Guayaquil, war ein Sozialprojekt der linken Correa-Regierung. Das Viertel besteht aus mehreren Sektoren. Die Bewohner, in ihren vorherigen Unterkünften von Naturkatastrophen bedroht, wurden dort in winzige Wohnungen umgesiedelt. Nach Socio Vivienda 2 holte sie vor 15 Jahren ein Umweltprogramm namens Ökologisches Guayaquil, das Menschen vom Ufer der Isla Trinidad zwangsumsiedeln sollte. In dem Mangrovengebiet am Fluss lebte die überwiegend afroamerikanische Bevölkerung ohne fließend Wasser und Strom in Bambushütten.

Doch auch in Socio Vivienda dort gab es anfangs weder fließendes Wasser noch Abwasser.

Vieles lieferte der Staat nie. Die Not wuchs, die Banden kamen und der Ruf des Viertels wurde immer schlechter.

Das Socio Vivienda 2 Foto: Veronica Lombeida

Heute wirkt Socio Vivienda 2 wie ausgestorben. Zwischen den engen Häuserreihen, in deren Mitte April Mangobäume blühen, ist kaum ein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Es ist auffällig still für einen Samstag. Die meisten Häuser sind verbarrikadiert, mit Vorhängeschloss an der Tür. Aus einem Fenster dringt Salsa-Musik.

Anfang März kamen bewaffnete Männer und drangen in die Häuser ein, um zu morden. 22 Menschen, vor allem junge Männer, waren am Ende tot. Manche gehörten zu einer Bande, manche nicht. Es war der vorläufige Höhepunkt des Bandenkriegs im Viertel. Die Tiguerones, die hier nach dem Sieg über eine andere Gang herrschten, hatten sich intern gespalten. Tagelang wurde geschossen, Granaten explodierten. Immer wieder tauchten an einem grünen Müllcontainer, der mitten auf einer der Straßen zwischen den Sektoren steht, Plastiksäcke mit zerstückelten Leichen auf.

Ein beispielloser Exodus begann. 80 Prozent der 4.500 Familien sollen geflohen sein. Binnenflüchtlinge in der eigenen Stadt – selbst für das an Gewaltrekorden nicht arme Guayaquil ein Novum.

Die Familien sind zerrissen. Junge Männer mussten zuerst gehen. Sicherheitsexperten berichten, dass Gangs gezielt Jungen anwerben, die Aggressivsten von ihnen aufs Land bringen und in speziellen Schulen zu Auftragsmördern ausbilden.

Nicht nur die Gangs jagen sie. „Wenn die Polizei heutzutage in ein Haus kommt und männliche Jugendliche sieht, nimmt sie sie mit. Egal, ob sie zu Gangs gehören oder nicht. Deshalb habe ich meine älteren vier Kinder weggeschickt“, sagt Jessica, eine Bewohnerin. So weit weg von Guayaquil, dass die 38-Jährige sie seit Wochen nicht gesehen hat. Die beiden Jüngsten waren bis zum Vortag bei Verwandten und Freunden in anderen Teil der Stadt – doch beengte Wohnverhältnisse und Pubertät vertragen sich nicht.

Sie ist mit ihnen ins Haus ihrer Mutter Ana geflüchtet. Die wohnt nur zwei Gehminuten von Jessicas Haus. Doch ihr Haus hat nur das alte Blechdach, die Mutter hat eine Zwischendecke eingezogen. Unten bei den Nachbarn sind Granaten explodiert – Tage nach den Bandenkämpfen. Ein Kleinkind fand eine beim Spielen, sagt sie, eine Freundin versucht, es wegzuziehen. Das Baby und die Nachbarin sind tot. „Sie sah aus wie durch den Fleischwolf gedreht.“

Im März kamen Männer ins Viertel Socio Vivienda, um zu morden. 22 Menschen waren am Ende tot

Das Blechdach vor Jessicas Haus ist zerlöchert von den Splittern. „Fällt eine Granate auf mein Dach, sind wir nicht sicher.“ Dazu liegt es an an einer breiten Straße, die keinen Schutz vor Kugeln bietet.

Ihren Reiskocher, die Mikrowelle, den Fernseher hat sie ins Haus ihrer Mutter getragen. Jeden Tage schaut sie bei sich nach dem Rechten – doch sie betritt es nur für die taz. Beim Anblick wird sie plötzlich still. Die Polizei war drin, den Rest taten wohl Plünderer. Schuhe und Kleidung liegen im Staub. Leere zeigt, wo Möbel fehlen. In der Spüle steht das dreckige Geschirr, seit Wochen unberührt, als ob sie jeden Moment zurückkäme. Zehn Jahre hat sie gespart und rund 3.000 Dollar investiert für ein paar Verbesserungen. Das alles für immer zurücklassen?

Sie arbeitet in einem Schönheits­salon außerhalb. Arbeitete. Seit dem Massaker fahren weder Taxis noch Busse zur Siedlung.

„Wer sind wir? – Die Batucada Popular!“, gellt es durch die Straße im zentralen Viertel Ayacucho, am anderen Ende von Guayaquil. Junge Frauen, Männer, Kinder, ein paar Ältere, die meisten schwarz, trommeln auf der Straße. Und sie trommeln, was das Zeug hält. Eine Frau mit Rastazöpfen und ein langer Schlaks geben den Takt vor – sie mit einzelnen Fingern, er mit dem Arm, der wie ein Schlagbaum auf und ab fährt. Der Ton der Trommeln ist metallisch, der Rhythmus geht durch den ganzen Körper. Die Gruppe füllt die ganze Straßenbreite.

In der Batucada Popular lernen junge Leute nicht nur, gemeinsam Musik zu machen, sondern auch etwas über ihre Rechte Foto: Veronica Lombeida

Die Nach­ba­r:in­nen schauen auf. Eine alte Frau hört erst eine Weile zu, radelt dann ihren Imbissstand mit dem aufgespannten Sonnenschirm mitten durch die Trommler:innen. Die Gruppe schließt ihr Rund hinter ihr wieder. Mit 150 Mitgliedern ist die Batucada Popular die größte Trommelgruppe Guayaquils. Sie besteht aus knapp einem Dutzend Gruppen in den ärmeren, überwiegend von Afro­ecua­do­ria­ne­r:in­nen bewohnten Vierteln in der Peripherie. Kommen die verschiedenen Gruppen zusammen, bilden sie die „Batucada Popular“, die Trommelgruppe des Volks. Heute sind etwa 40 zur Probe gekommen.

Das Ganze entstand während der Corona­pandemie. Die traf Guayaquil besonders hart – kaum Unterstützung für die Bevölkerung, eine katastrophale Gesundheitsversorgung, dafür Ausgangssperren ab zwei Uhr nachmittags. Sterben und hungern, so erlebte man die Pandemie hier.

Die Menschen zogen aus, um mit Getrommel zu protestieren, gegen Kürzungen und Repressionen, gegen die Polizei, die willkürlich auf Jugendliche einprügelte. Erst auf Eimern, dann auf Blechtrommeln. Am Anfang noch in Schutzkleidung.

Johanna Chevez Contreras, die Gründerin der Batucada und mit ihrem Mann Xavier Moreira Ko-Direktorin, wollte erst nur Frauen um sich sammeln. „Ein Fehler“, sagt sie rückblickend. Denn die Mütter hätten keine Zeit für stundenlange Proben gehabt, sie mussten Geld verdienen. Sie schleppten ihre Kinder mit, weil die nicht alleine daheim bleiben konnten. Aber die Kinder waren es, die dann beim Trommeln blieben. In den fünf Jahren sind sie zu Jugendlichen herangewachsen – und mit ihrem Spiel auf den Straßen haben sie immer mehr angezogen.

In der Batucada lernen sie nicht nur, gemeinsam Musik zu machen und Projekte zu entwickeln. Sondern auch über ihre Rechte und wie sie dafür eintreten. Das Projekt arbeitet inzwischen mit anderen Basisorganisationen zusammen. In Socio Vivienda mit dem Movimiento Barrios de Lucha (Bewegung kämpfende Viertel) – einer der Basisorganisationen, die sich vor allem an alleinerziehende Mütter und ihren Kampf um würdige Arbeitsbedingungen richtet und basisdemokratisch organisiert ist.

Sie proben direkt auf der offenen Straße, in Vierteln, wo der Staat die Menschen großteils im Stich gelassen hat oder verfolgt und wo die Banden das Sagen haben. So hat auch Anderson die Gruppe kennengelernt.

Xavier Moreira ist Soziologe, Aktivist, Mitorganisator der Batucada, und er ist selbst ein Kind aus ärmsten Verhältnissen. Er kandidierte im Februar 2025 erfolglos für die indigene P-Partei bei den letzten Parlamentswahlen. Er kennt die enge Verbindung zwischen Banden und Jugendlichen in der Stadt. Er weiß, wie sehr der Geburtsort die Zukunft prägt, wie stark die Herkunft den Lebensweg bestimmt. Doch Xavier bekam etwas, was viele der anderen Jungs nicht hatten: Liebe und Bildung.

Das Haus der zehnköpfigen Familie – sieben Kinder aus früheren Beziehungen, eine gehbehinderte Schwägerin – wurde immer wieder Zuflucht für Jugendliche, wenn Gewalt sie bedrohte und ihre Familien sie nicht aufnehmen konnten. Nach dem Massaker in Socio Vivienda im März verdoppelte sich die Zahl der Bewohner zeitweise.

Noboa-Politik der „harten Hand“ änderte nichts

Guayaquil entstand auf zugeschütteten Fluss­armen und Inseln, oft ungeplant, teils auf Müllhalden. Manche nennen es die südlichste Stadt der Karibik, obwohl es an einer Pazifikmündung liegt. Heiß und feucht, Moskitos praktisch rund um die Uhr – und dazu ein Menschenschlag, der tatsächlich an die überbordende, lebendige Wärme der Karibik erinnert. Die Stadt selbst wirkt eher menschenunfreundlich: extrem breite Straßen, viel Beton. Bäume und Parks sind Mangelware. Seit Jahren kommt die Gewalt hinzu, die immer neue Horror-Rekorde bricht. Daran hat auch die Politik der „harten Hand“ von Präsident Daniel Noboa nichts geändert – im Gegenteil.

Noboa wurde in den USA, in Miami, geboren. Seine Familie aus Guayaquil gehört dank eines Bananen-Imperiums zu den reichsten des Landes. Noboas Familie legte ihm, wie unter den Eliten des Landes üblich, zusätzlich die US-amerikanische Staatsbürgerschaft in die Wiege. Einen Großteil seines Lebens verbrachte der 37-Jährige, der am Sonntag gegen die linke Kandidatin Luisa González in die Stichwahl geht, in den USA.

Stichwahl in Ecuador

Die Konstellation kennen die Ecuadorianer schon von der Präsidentschaftswahl 2023. Damals gewann Daniel Noboa knapp vor Luisa González. In der Stichwahl am Sonntag treffen die beiden Kontrahenten erneut aufeinander, Umfragen sagen auch diesmal ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.

Die beiden Kandidaten könnten unterschiedlicher kaum sein. Noboa stammt aus einer der reichsten Familien Ecuadors, die mit dem Export von Bananen ein Vermögen anhäufte. González wuchs in einem Dorf auf, heiratete mit 15 und startete als Alleinerziehende ihre Karriere dank eines Stipendiums.

Mit 35 Jahren wurde Noboa im Oktober 2023 eines der jüngsten Staatsoberhäupter der Welt. Er trat an mit dem Versprechen, hart gegen die Drogenbanden vor­zugehen, die das einst friedliche Land seit mehreren Jahren mit Gewalt überziehen. Noboa schickte Soldaten auf die Straßen und in die Gefängnisse, wo er halbnackte Häftlinge vorführte. Das brachte ihm viel Zuspruch ein, aber auch scharfe Kritik von Menschenrechtsorganisationen.

Die Gewalt will auch González bekämpfen, das Übel aber an der Wurzel packen. In ihrem Programm verspricht die 47-Jährige, gegen Ungleichheit, Straflosigkeit und Korruption als Ursachen für die beispiellose Kriminalität im Land vorzugehen.

Der ehemalige Präsident Rafael Correa, der in Abwesenheit wegen Korruption zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde, unterstützt vom belgischen Exil aus die Kandidatur von González. Manche Ecuadorianer nehmen ihr die Verbindung zum Ex-Präsidenten übel. Doch diese antwortet: „Ich bin die Kandidatin, ich werde regieren“ – und nicht Correa. (afp)

Vielleicht erinnert der Malecón 2000, die Flusspromenade der Stadt, deshalb an eine Mini-Version von Miami: importierte Palmen, KFC, McDonald’s, Fahrgeschäfte. Ein meterhoher Zaun trennt die blinkende Uferpromenade vom Rest der Stadt. Eine private Stiftung kontrolliert das Gelände. Ihr Sicherheitspersonal pfeift, wenn sich Paare küssen. Ein Fahrgeschäft heißt tatsächlich „Guayakill Ride“.

In der Mitte des alles überragenden Riesenrads prangt das Logo der städtischen Bank. Die Seilbahn, die Guayaquil mit der Stadt Durán auf der anderen Flussseite verbindet, kostet 74 US-Cent – für viele zu teuer.

In Socio Vivienda sehen es die meisten Menschen so: Po­li­ti­ke­r:in­nen sind alle korrupt. Auch der Correismus hat viele Fehler begangen – aber immerhin noch etwas für die Armen getan und sie mit Würde behandelt. Deshalb wollen viele für Luisa González stimmen: „Mit Luisa haben wir immerhin noch eine kleine Chance. Wenn Noboa gewinnt, geht das hier alles unter. Für ihn sind wir alle Terroristen. Aber auch unter den Armen gibt es Gute“, sagt Mutter Ana.

Für den aus dem Viertel geflohenen Soziologen Evandro Morena liegt der Schlüssel in den Vierteln selbst. „Ich denke, die einzige Möglichkeit liegt darin, dass die Familien – ähnlich wie in den indigenen Gemeinden – das Territorium in Besitz nehmen, ihre Jugendlichen gemeinsam erziehen und Widerstand leisten.“

Wie wollen wir Gewalt und Kriminalität senken, wenn wir den Menschen keine Alternative geben?

Xavier Moreira, Direktor der Batucada Popular

„Allein mit Polizei und Militär werden wir nichts lösen“, sagt auch Xavier Moreira. „Die lokalen und nationalen Regierungen müssen sich ressortübergreifend zusammensetzen. Es braucht neue Bauten, Infrastruktur, mehr Lehrer und bessere Ausstattung an den Schulen und eine wirtschaftliche Einbeziehung. Wie wollen wir Gewalt und Kriminalität senken, wenn wir den Menschen keine Alternative geben?“

Schlafen kann Anderson kaum. Aber er hat Träume. Er will seinen Schulabschluss abholen. Er will mehr lernen. Über seine Rechte, über sein Schwarzsein – er hat angefangen darüber nachzudenken, seit er in der Batacuda ist. Sie sagen, sie brauchen mich im Haus, ich bringe so gute Stimmung unter die Leute.“ Die Söhne von Xavier und Johanna, mit denen er ein Zimmer teilt, haben ihm das Gitarrespielen beigebracht und wie man einen Computer bedient. Obwohl sie ihn oft erst mal nicht verstehen, wie er sagt, wegen seines Straßen-Slangs.

Im Gegenzug bringt Anderson ihnen das Tanzen bei. Bei Fiestas blieben sie nämlich immer lieber sitzen: „Sie sagen, sie würden gern so tanzen und singen können wie ich.“ Wenn sie Schritte üben, macht er ihnen Mut. „Ich lerne, die Dinge anders zu sehen.“

Spätestens im Mai, glauben Xavier Moreira und Bewohnerin Ana, werden die meisten nach Socio Vivienda zurückkehren. Weil dann die Schule wieder beginnt. Einen Monat soll es virtuellen Unterricht geben, aus Sicherheitsgründen. Doch spätestens danach werden die Familien zurückkehren. „Wo sollen sie sonst hin?“ Die Banden werden noch da sein.

*Zum Schutz der Personen sind alle Namen in ­diesem Text geändert worden.

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1 Kommentar

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  • Ein toller Bericht. Danke.