EUROFACETTEN: Museale Exotik
■ Minderheiten — volkskundliches Anschauungsmaterial
Wie viele Sprachen gibt es, die heute noch in Europa gesprochen werden? Wie viele sind schon verloren gegangen und wie viele sind dabei auszusterben? Auf einer kürzlich veröffentlichten Europakarte der Sprachen sind 54 eingezeichnet. Andere Sprachforscher haben über 70 gezählt. Genauere Angaben lassen sich scheinbar nicht machen. Denn es ist für Minderheiten im Europa der Nationalstaaten nicht einfach, ihre Muttersprachen zu sprechen und weiterzuentwickeln. Mehrere Wochen befand sich eine Gruppe von Bretonen im Hungerstreik. Warum? Sie wollen nichts weiter als das Recht, daß ihren Kinder das Alphabet auch auf bretonisch beigebracht wird. Ähnliche Probleme haben die Friesen, Basken und Katalanen. Letztere können sich freuen, daß ihre Sprache wenigstens eine der vier offiziellen Sprachen der Olympischen Spiele in Barcelona sein wird. Ein Symbol, begrüßenswert und notwendig. Doch ist das ausreichend?
Die Minderheiten und ihre Sprachen stehen heute im Dienste der Tourismusindustrie. Sie werden als bunte Folklore auf eine vermarktbare Verpackung reduziert. Ihr Anwendungsfeld bleibt auf Heimatmuseen begrenzt, eine praktische Anerkennung ist ihnen verwehrt. Sie verhelfen den vereinheitlichten Gesellschaften zu nostalgischen Zuckungen und fungieren so als Abgesang auf die aussterbende Vielfalt Europas. Denn auch die offiziellen „Förderer“ des Europas der Regionen wollen den Minderheiten nicht den Raum geben, der für eine eigenständige lebendige Entwicklung nötig ist, sondern sie fein säuberlich archivieren.
Auch die Linken, Sozialdemokraten eingeschlossen, haben nichts für Minderheiten und ihre „volkstümlichen“ Forderungen übrig. Kamen und kommen sie nicht aus der „reaktionären“ Ecke? Eine Frage, die bereits das Nachdenken über den „revolutionären“ Charakter dieser Minderheiten und ihrer Sprachen in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern verbot. Dies ist verwunderlich, schließlich sind die gleichen Kreise außerordentlich sensibilisiert gegenüber den kulturellen Identitäten von Minderheiten in der Dritten Welt. Auch die Regionalismuspolitik der Grünen als Alternative zum Nationalstaat bleibt eine leere Formel, solange sich nicht das Konzept der Gleichwertigkeit von Minderheitssprachen und Dialekten mit Hauptsprachen in ihren bildungspolitischen Programmen niederschlägt.
Die französische Nationalversammlung beschloß letzte Woche, den Korsen die seit Jahrhunderten vorenthaltene Anerkennung als eigenständiges Volk zu gewähren. Gleiches bleibt allerdings anderen Völkern auf dem französischen Festland verwehrt. Elsässer, Sarden oder Friesen werden die Gründe für den erstmaligen, aber auf Korsika begrenzten Sinneswandel des sonst streng nationalistisch, zentralistischen Frankreichs studieren müssen, wollen sie ihre kulturelle Unterdrückung überwinden. Ali Yurttagül
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