EU-Grüner über Wende in der Finanzpolitik: „Nun kommen Bonds in Coronazeiten“
Deutschlands hat seinen EU-Kurs radikal geändert, sagt Sven Giegold. Das erlaube EU-Steuern und Transfers nach Südeuropa, aber Probleme blieben.
taz: Die EU-Kommission will ein 750 Milliarden Euro schweres Wiederaufbauprogramm mit Schulden finanzieren. Auch Kanzlerin Angela Merkel hat sich für EU-Schulden ausgesprochen – dabei war sie bisher immer strikt dagegen. Was sagen Sie dazu?
Sven Giegold: Das ist eine 180-Grad-Wende der deutschen Europapolitik. Im Übrigen ein verzögertes Echo der Europawahlen im letzten Jahr. Dort haben die Wähler für mehr Europa gestimmt. Und jetzt werden tatsächlich eine ganze Reihe falscher deutscher Europa-Tabus abgeräumt. Kaum zu glauben, dass nun selbst Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz für schuldenfinanzierte EU-Programme sind! Das ist ein Erfolg für uns Pro-Europäer.
Welche Tabus meinen Sie?
Die EU-Steuern, wozu eine europäische Digitalsteuer zählen könnte, Zuschüsse statt Kredite und die gemeinsame Haftung. Die Christdemokraten und vor allem die CSU wollten bisher nie EU-Steuern – nun gibt es plötzlich eine große Offenheit. Deutschland wollte auch nie Transfers – doch jetzt soll es 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuwendungen geben. Und was die Schulden betrifft, so hieß es noch bis vor Kurzem in Berlin: Coronabonds machen wir auf keinen Fall! Aber nun kommen Bonds in Coronazeiten. Das stärkt Europa!
51, gehörte im Jahr 2000 zu den Mitgründer*innen des globalisierungskritischen Netzwerks Attac. Seit 2008 sitzt er für die Grünen im EU-Parlament.
Aber die Schulden sollen die absolute Ausnahme bleiben, Merkel spricht von einer einmaligen Sondermaßnahme.
Alle Budgets sind einmalig. Entscheidend ist doch, dass wir nun einen ganz anderen Diskurs in Deutschland haben. Europas Zusammenhalt braucht eine gemeinsame und solidarische Investitions- und Fiskalpolitik in Europa.
Wie erklären Sie die Wende?
Wir wissen nicht, was die wahren Motive waren. Aber ich denke schon, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank eine Rolle gespielt hat. Ich halte es für fragwürdig und europarechtlich gefährlich – aber es hat auch eine Debatte in Deutschland ausgelöst, dass wir nicht alle Krisen der EZB zur Lösung überlassen dürfen.
Die Hilfe hat auch eine Kehrseite: Die EU muss die Schulden bis 2058 mühsam abtragen, das EU-Budget wird über Jahre hinaus eingefroren, Zuschüsse sollen an wirtschaftspolitische Auflagen gebunden werden …
Der Schuldendienst wird über 38 Jahre gestreckt. Das ist so lang, dass die Tilgung makroökonomisch keine Rolle mehr spielt. Dass der EU-Finanzrahmen nicht erhöht wird, ist ein Zugeständnis an die „Geizigen vier“, also Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Aber die 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbau bedeuten de facto dann doch wieder ein höheres EU-Budget. Allerdings könnte es auch falsche Opfer geben. So soll das Bildungsaustauschprogramm Erasmus nicht weiter erhöht werden. Hierfür muss das Parlament kämpfen.
Und was ist mit den Auflagen? Die EU-Kommission will sie mithilfe des „Europäischen Semesters“ durchsetzen. Das ist ein Eingriff in das Budgetecht der nationalen Parlamente, ohne demokratische Kontrolle.
Richtig, deshalb geht es nun darum, das Europäische Semester zu parlamentarisieren. Es wäre gut, wenn das Semester nun keine bürokratische Übung ohne Bindungswirkung bleibt. Bisher hatten etliche Empfehlungen aus Brüssel eine marktliberale Schlagseite. Daher müssen die Empfehlungen nun parlamentarisch mitbeschlossen werden.
Was wird aus dem „European Green Deal“? Viele Grüne, aber auch Sozialdemokraten und Linke kritisieren, dass er in dem Entwurf aus Brüssel verwässert wird.
Die Gefahr ist real, denn nur 25 Prozent des nächsten EU-Budgets sind für den Kampf gegen den Klimawandel geplant. Klimaschutz muss der Baustoff für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sein. Merkel und von der Leyen müssen mehr für das Klima tun, wenn sie die Zustimmung des EU-Parlaments wollen. Uns kommt es auch auf die Qualität der Ausgaben an. Da sind wir noch nicht am Ziel.
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