EU-Gipfel: Das Personalkarussell läuft an
Die Ausnahmeregel bei den Grundrechten hat Tschechiens Präsident Klaus bekommen. Nun geht es um die EU-Spitzenjobs. Doch wer zuerst den Finger hebt, ist weg.
Den Problemfall Tschechien räumte die schwedische Ratspräsidentschaft auf dem EU-Gipfel flott vom Tisch. Bereits in der ersten Arbeitssitzung am Donnerstagabend war klar, dass sich Prag dem für Großbritannien und Polen geltenden Protokoll anschließen und sich aus der Grundrechtecharta ausklinken darf. Staatspräsident Václav Klaus hatte in den letzten Wochen seinen Widerwillen gegen das EU-Reformprojekt auf die Charta umgelenkt. Er fürchtet, dass aus der neuen Rechtsgrundlage Entschädigungsansprüche für vertriebene Sudetendeutsche erwachsen könnten. Juristen halten das zwar für absurd, da die Charta nicht rückwirkend gilt. Doch Klaus bekam seinen Willen und will nun - falls das tschechische Verfassungsgericht am 3. November den Vertrag durchwinkt - seine Unterschrift nicht länger verweigern.
Unmittelbar danach sollen auf einem Sondergipfel die neuen Spitzenjobs besetzt werden. Nachdem wochenlang nur abgehalfterte Alphatiere im Gespräch waren, fragten Parlamentspräsident Jerzy Buzek und EU-Kommissarin Margot Wallström in den letzten Tagen beharrlich, ob es keine gute Kandidatin gebe. Als Tarja Halonen bei ihrer Ankunft gefragt wurde, ob sie der Posten der neuen EU-Ratspräsidentin reizen könnte, lachte sie. "Ich denke nicht, dass wir auf diesem Gipfel überhaupt jemanden benennen werden", sagte die finnische Staatspräsidentin. Seit neun Jahren steht Halonen an der Spitze Finnlands. Sie hat genug Erfahrung, um zu wissen, dass es gefährlich sein kann, zu früh den Finger zu heben. Das Risiko, am Ende mit leeren Händen dazustehen, ist hoch.
Doch bei diesem Amt, das mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages geschaffen wird, kommen andere Unwägbarkeiten hinzu. Wer es anstrebt, darf kein anderes Amt bekleiden. Wenn eine Politikerin wie Halonen ihr Interesse zu deutlich zeigen würde, könnte man ihr daheim unterstellen, sie sei amtsmüde. Wenn dann aber der Lissabon-Vertrag doch nicht kommt oder die Regierungschefs sich für einen anderen Kandidaten aussprechen, ist der Ruf zu Hause irreparabel beschädigt.
Doch auch die Jobbeschreibung birgt Risiken. Was dazu im Lissabon-Vertrag steht, ist auf den ersten Blick wenig aufregend: Der Präsident des Europäischen Rates beruft viermal im Jahr einen Gipfel ein, führt den Vorsitz und gibt diesen Treffen "Impulse". Hinterher berichtet er dem Europaparlament. Das klingt wie ein besserer Sekretärsjob. Doch Kenner der Materie sind sich einig, dass viel Spielraum besteht, sich selbst zum Ansprechpartner Nummer eins zu machen. Alles hänge von den Maßstäben ab, die der erste Amtsinhaber setze.
Tony Blair, so die Einschätzung, sei inzwischen ziemlich chancenlos. Dabei wurde sein Name lange ganz oben gehandelt. Für Blair spricht, dass er kein Amt zu verlieren hat und dem Parteibuch nach zu den Sozialisten gezählt wird. Damit wäre deren Anspruch, einen der drei Topjobs in Europa für sich zu reklamieren, abgegolten. Aber noch vor dem Beginn des Gipfels stellte Martin Schulz, Chef der Sozialisten im EU-Parlament, klar: Ein Bewerber aus einem Land, das den Euro nicht eingeführt hat und nicht zum grenzfreien Schengen-Raum gehört, komme nicht infrage. Außerdem wollten die Sozialisten lieber den neuen EU-Außenminister stellen.
Der wird wohl der eigentlich mächtige Mann im neuen System. Dennoch gibt es bislang erstaunlich wenige Kandidaten, weil das Land, das den Außenminister stellt, auf einen EU-Kommissar verzichten muss. Wenn sich am Ende aber zeigte, dass der Lissabon-Vertrag doch nicht kommt, wären die guten Posten in der EU-Kommission bereits vergeben. Doch Großbritannien und Frankreich setzen auf Risiko. Der britische Außenminister David Miliband hat kürzlich in London eine völlig unbritische, flammende Rede für Europa gehalten, die als Bewerbungsrede für diesen Posten des EU-Außenministers angesehen werden kann. Und Frankreich hat mit dem ehemaligen Außenminister, Michel Barnier, und dem jetzigen, Bernard Kouchner, gleich zwei Kandidaten ins Gespräch gebracht, die den Posten gut ausfüllen könnten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles