piwik no script img

ERSTMALS BIETET EINE BUNDESTAGSWAHL KEINE ALTERNATIVE MEHRDie gefühlte Ideologie ist weg

Die Bundesrepublik Deutschland erlebt derzeit ein neues Phänomen: eine Wahl ohne Wahl. Ob am Ende SPD oder CDU regieren – das ist zwar eine unentschiedene, aber keine leidenschaftliche Frage. Wie immer die nächste Regierungskoalition aussehen mag, kaum ein Bürger vermutet, dass es ein „davor“ und ein „danach“ geben wird. Politik ist austauschbar geworden – eben mittig.

„Mitte“: Dieses Bild einer parteipolitischen Verortung ist bei SPD und CDU so allgegenwärtig, so inflationär, dass das Neue an der „neuen Mitte“ wie eine rhetorische Blase wirkt. Aber diese Inszenierung der Ununterscheidbarkeit ist tatsächlich neu; sie hat es seit 1949 noch nicht gegeben. Bisher schien jede Wahl nicht nur einen potenziellen Wechsel der Regierung zu bieten, sondern auch ihrer Richtung. Immer aufs Neue gab es den Kampf der Lager, oft mehr atmosphärisch als faktisch – aber zumindest die gefühlte Ideologie war allseits beträchtlich.

Noch 1998 ging es um mehr, als nur die Person Kohl nach 16 Amtsjahren in die wohlverdiente Rente zu schicken. Rot-Grün war ein Projekt, die Union eine erkennbare Alternative. Das ist nun vorbei. Zwar hat Schröder ein paar linke Änderungsvorschläge in das SPD-Wahlprogramm aufgenommen. Aber prägend bleibt ein anderer Satz von gestern: „Es wird keinen Lagerwahlkampf geben. Dies ist ein Programm für eine gesellschaftliche Mitte.“ Genauso könnte Stoiber es sagen.

Ironischerweise hat gerade die grüne Regierungsbeteiligung diese Entideologisierung beschleunigt, die von einer Desillusionierung nicht zu unterscheiden ist. Der Marsch durch die Institutionen war auch ein Fortbildungskurs über diese Institutionen. Inzwischen ahnt fast jeder Wähler, dass wir seit Jahrzehnten in einer heimlichen großen Koalition leben, weil Bundesrat und Bundestag fast nie die gleichen Mehrheiten aufweisen. Der Schock wird daher nicht groß sein, falls diese inoffizielle Ordnung nach dem 22. September auch offiziell würde.

Das ist neu: Nach mehr als dreißig Jahren wird die große Koalition auf Bundesebene erstmals wieder denkbar. Sie scheint zudem so nahe liegend, wenn doch sowieso alles „neue Mitte“ ist. Aber „Mitte“ ist gefährlich, vor allem, wenn sie komplett an der Macht ist. Das hat die letzte große Koalition gezeigt. Damals, 1969, nahm die NPD so an Stimmen zu, dass sie fast die Fünfprozenthürde übersprungen hätte. Es gibt ein Bedürfnis nach Visionen, nach einer Wahl bei einer Wahl. Und es ist gefährlich, wenn nur noch Rechtsradikale diesen Wunsch befriedigen. ULRIKE HERRMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen