Erstaunlich klein hat Joachim Löw die Bedeutung dieses Turniers veranschlagt, das am Sonntag für sein Team mit dem Spiel gegen die Ukraine beginnt. Als Zwischenschritt bezeichnete der Bundestrainer vor einem halben Jahr die Europameisterschaft in Frankreich. Kurz danach war er gedanklich bereits wieder bei der nächsten WM 2018 in Russland und der Mission Titelverteidigung.
Geschickt fanden das einige Beobachter. So habe er die Erwartungen an die deutsche Nationalmannschaft für die nächsten fünf Wochen heruntergeschraubt. Vor vier Jahren wählte Löw allerdings genau dieselben Worte. Die EM in Polen und der Ukraine, sagte er damals, sei für ihn ein Zwischenschritt auf dem Weg nach Brasilien.
Der Leiter und Lenker des deutschen Vorzeigeteams durchmisst die Zukunft in großen Schritten. Seit einer Dekade ist er nun im Amt und hat sich vom Taktikeinflüsterer Jürgen Klinsmanns – durch den so erfolgreich bewältigten Weg bis hin zum WM-Titelgewinn in Rio de Janeiro – den Ruf eines visionären Strategen erarbeitet.
Wenn man von Turnier zu Turnier denkt, fällt auch die mühselige Qualifikation in den letzten zwei Jahren kaum ins Gewicht. Dass die DFB-Elf mit der schlechtesten Saisonbilanz von vier Niederlagen unter Löw in diese EM startet und seit zwei Jahren abgesehen vom Heimsieg gegen Polen (3:1) unter Wettbewerbsbedingungen nicht überzeugen konnte, dass das Spiel meist unter einer seltsamen Tempodrosselung litt – all das eignet sich kaum als Aufreger. Eine Turniermannschaft eben, heißt es.
An der Qualität der Mannschaft zweifelt keiner
Die Nationalmannschaft ist unter der Ägide von Teammanager Oliver Bierhoff zu einem Markenunternehmen geworden, das mittlerweile zwischen den Großereignissen auch erfolgsunabhängig verlässlich seine Rendite einfährt. Selbst größte Erschütterungen – wie die DFB-Korruptionsaffäre um die Heim-WM 2006 – vermögen es nicht, der Stabilität etwas anzuhaben. Löw konnte unbeschadet Solidaritätsgrußbotschaften an den Vertuscher und Ex-DFB-Präsidenten Wolfgang Niersbach entsenden. Kritik musste er nicht fürchten.
Nach der WM in Brasilien, berichtete Bierhof stolz, habe er an erster Stelle immer wieder gehört, wie „toll“ sich die Jungs gegeben hätten – „so sympathisch“. Er resümierte: „Der sportliche Aspekt ist nach hinten gerutscht, das Auftreten stand im Vordergrund.“ Sein Ideal scheint es zu sein, eine Generation von Nationalspielern heranzubilden, die sich fast ein jeder zum Nachbarn wünscht. Das Team steht über allem. Eines der ältesten Erfolgsrezepte hat der DFB als neuen Markenkern wiederentdeckt. Vor einem Jahr wurde das Nationalteam mit dem Logo „Die Mannschaft“ versehen.
Die mühsame Qualifikation von Die Mannschaft ist längst vergessen
An der individuellen Qualität des Teams hegt vor der EM in Frankreich sowieso kaum einer einen Zweifel. Immerhin stehen 14 Weltmeister von 2014 im Aufgebot. Deshalb steht jetzt der Teamgedanke im Vordergrund. „Es geht darum, eine Einheit zu bilden und ein bedingungsloses Miteinander zu schaffen“, gab Löw im Trainingslager in Ascona vor.
Hackordnungen sind längst wieder etabliert
Die Aufgabe, die der Bundestrainer zu bewältigen hat, ist indes viel größer. Er soll den Erfolg des Nationalteams durch Erneuerung verstetigen. Doch anders als bei Klubtrainern ist sein Reservoir begrenzt. Seit dem Rücktritt von Philipp Lahm, dem einzigen deutschen Außenverteidiger von internationalem Format, hat er auf längere Sicht nun statt einer zwei Problemzonen zu kaschieren, weil auch die viel gerühmten deutschen Nachwuchsakademien bislang noch keine geeigneten Nachfolgekandidaten ausgebildet haben.
Auf den Positionen, auf denen die Konkurrenz deutlich größer ist, vertraut Löw in erster Linie altbekannten Weggefährten wie Sami Khedira, Bastian Schweinsteiger oder auch Lukas Podolski. Der verletzungsbedingte Ausfall arrivierter Kräfte wie Ilkay Gündogan und Marco Reus bestärkt sicherlich diese Tendenz.
Jogis Jungs für Frankreich
Trainer Joachim Löw, 56 Jahre - Samma mal so: Der Bundes-Jogi will im zehnten Jahr seiner Amtszeit „scho au noch Europameister werden.“ 23 Kicker hat er dafür in den deutschen Kader berufen.
Foto:
dpa
Manuel Neuer, 30 - Der Ballfänger kann alles: Bälle abwerfen, die zu Todespässen mutieren; den Libero im Beckenbauer-Format geben; im eigenen Strafraum siegreich ins Dribbling gehen. Nebenbei wehrt Neuer alles ab, was auf seinen Kasten geflogen kommt – selbst „Wembley“-Tore. Und sonst? „Koan Neuer!“ (Südkurve München)
Foto:
dpa
Jérôme Boateng, 27 - Hat als Brillendesigner sowieso den Überblick. Im Zweikampf kaum zu schlagen, andererseits ein netter Nachbar mit schüchterner Stimme, der die Beatbox perfekt beherrscht. Und sonst? „Boateng sauber. Ganz lässige Attitüde. Sonnenbrille auf, ab ins Cabrio und das Ding lässig nach Hause fahren.“ (TV-Kommentator Wolf Christoph Fuss)
Foto:
dpa
Mats Hummels, 27 - Elegant wie der Kaiser und rhetorisch so begabt, dass er Philipp Lahm als ersten Field-Reporter-Beglücker problemlos ablösen wird. Bildet mit Boateng die weltweit beste Innenverteidigung – zumindest bis der feinsinnige Mats wegen Krämpfen vorzeitig raus muss. Und sonst? „Lieber ein BVB-Titel als sechs mit einem anderen Club.“ (Mats Hummels)
Foto:
dpa
Jonathan Tah, 20 - Toni Rüdiger verletzt, Hummels eh nie so richtig fit. Schon erschrickt die Nation und fürchtet Abwehrsorgen. Die taz findet: Pah, es gibt doch Tah! Darum nehmen wir den Weltmeistertrainer wörtlich – und beordern Tah aus dem Urlaub direkt in die Startelf. Und sonst? "Ich wollte bewusst eine Situation schaffen, Toni Eins-zu-Eins ersetzen." (Jogi Löw)
Foto:
dpa
Benedikt Höwedes, 28 - Der Schalker Kapitän behielt seinen kämpferischen Spielstil trotz Haartransplantation bei. Die entstehenden Löcher, die der Vollnaturhaarbursche Hummels bei seinen Ausflügen hinterlässt, wird Höwedes grätschend stopfen. Und sonst? „Eigentlich bin ich selten richtig glatt rasiert.“ (Benedikt Höwedes)
Foto:
dpa
Toni Kroos, 26 - Während sich Bruder Felix bei Union Berlin durchgesetzt hat, musste der arme Toni ins krisenhafte Spanien flüchten. Bei Bayern gab's nicht genügend Kleingeld. Erreicht auf dem Spielfeld eine Passquote, die höchstens Manuel Neuer überbietet. Und sonst? „Er geht jetzt auch jeden Morgen zum Frühstück – unaufgefordert.“ (Ex-DFB-Co-Trainer Hansi Flick)
Foto:
dpa
Sami Khedira, 29 - Im Konzert der Hochbegabten spielt er die Pauke. Wurde trotzdem Weltmeister und holte schon die nationale Meisterschaft in drei verschiedenen Ländern. In Spanien mit Real Madrid (2012), in Italien mit Juventus Turin (2016) und in Deutschland mit dem VfB Stuttgart (2007)! Und sonst? „Ich will kein zweiter Sami Khedira werden.“ (Bruder Rani Khedira)
Foto:
dpa
Thomas Müller, 26 - Der missglückte Freistoß-Stolpertrick aus dem WM-Achtelfinale 2014 und Effenbergs harsche Kritik nagen noch immer an Müller. Die beim DFB installierte taz-Trainingskamera nahm ihn nur kriechend, rollend und hüpfend auf. Und sonst? „Die Ausführung war mangelhaft. Damit gehste bei Let's Dance nicht in die zweite Runde.“ (Stefan Effenberg)
Foto:
dpa
Mesut Özil, 27 - Die Arsenal-Fans singen über Özil: „He’s better than Zidane“. Und Mourinho sagte einst: „Der beste Zehner der Welt.“ Allah sei Dank gehört der Islam auch zu Deutschland – oder glaubt irgendjemand, dass die AfD einen so genialen Spielmacher montags in Dresden finden würde? Und sonst? „Mourinho widerspricht man lieber nicht.“ (Mesut Özil)
Foto:
dpa
Mario Götze, 24 - Dortmunds Fans wollen ihn nicht, Bayerns Verantwortliche auch nicht. Für ein Joker-Tor im Endspiel reicht’s aber noch. Die Vorlage wird Kumpel Marco Reus übrigens wieder nicht liefern können. Wäre ja zu schön. Und sonst: "Happy Birthday Marco! Can't wait for our next tournament together." (Mario Götzes Twitterdienst)
Foto:
dpa
Mario Gomez, 30 - Das Spiel 2008 gegen die Ösis, in dem Gomez aus zwei Metern das Tor nicht traf, ist vergeben und vergessen. Bild titelt nach dem ersten Spiel gegen die Ukraine: „Der TORero zeigt Putin, wie man die Ukraine richtig zerlegt“. Und sonst? „Du hast die Haare schön!“ (80 Millionen Fußballfans)
Foto:
dpa
Marc-André ter Stegen, 24 - Hat beim FC Barcelona gezeigt, dass er eine gute Nummer 2 ist.Bernd Leno, 24 - Hat in Leverkusen nur gezeigt, dass er eine gute Nummer 1 ist.Jonas Hector, 26 - Kölle Alaaf. Der Rheinländer ist Poldis Stimmungs-Assistent!
Foto:
dpa
Shrokdan Mustafi, 26 - Hat man zuletzt bei der WM rumstolpern sehen. Wer schaut schon Spiele des FC Valencia?Emre Can, 22 - Musste bei Klopps Liverpool so viel laufen, dass er erst im Finale wieder einsatzfähig sein dürfte.Joshua Kimmich, 21 - Der Münchner ist kein Kandidat fürs Elfmeterschießen!
Foto:
dpa
Julian Weigl, 20 - Gewann mit dem BVB keine Titel, zählt aber trotzdem zu den Saisongewinnern. Paradox.Bastian Schweinsteiger, 31 - Zwei Fragen: Kam der Kapitän seit der WM eigentlich mal zum Einsatz? Und: Wann ist er denn nun fit?Julian Draxler, 22 - So viel weiß jetzt auch Wolfsburgs Manager Klaus Allofs: Draxler ist kein de Bruyne!
Foto:
dpa
Lukas Podolski, 31 - "Ich bin nicht als Maskottchen hier" (Poldi über Poldis EM-Rolle). Dann nennen wir ihn halt Bankwärmer.André Schürrle, 25 - Schürrle flankt auf Götze, der Rest ist bekannt. Hätte die Nominierung sonst nicht verdient.Leroy Sané, 19 - Der zweite Schalker nach Stan Libuda, der an Gott vorbeikommt.
Foto:
dpa
Feierte einst das Fußballfeuilleton nach dem Abgang von Capitano Michael Ballack die flachen Hierarchien und den egalitären Fußball der DFB-Elf, haben sich längst wieder neue Hackordnungen etabliert. Wer Schweinsteiger „Chefchen“ nennt, macht sich des Tatbestands der Majestätsbeleidigung verdächtig. Weil aber der malade Mittelfeldspieler zuletzt doppelt so schnell zu altern schien wie seine Kollegen oder weil auch andere Häuptlinge wie Sami Khedira vornehmlich mit ihrem anfälligen Körpern zu kämpfen haben und einige neue Spieler wie Julian Weigl, Leroy Sané oder Joshua Kimmich ins Team integriert werden müssen, wird Löw einige sich anbahnende Verschiebungen im Gesamtgefüge moderieren müssen.
Möglicherweise spielt der DFB mit Dreierkette
Bei aller Treue zu verdienten Nationalspielern überraschte Löw in der Vergangenheit bei großen Turnieren gern mit experimentellen Versuchen. In Brasilien etwa stellte er in der Vorrunde seine Viererabwehrkette ausschließlich aus gelernten Innenverteidigern zusammen und versetzte Lahm ins Mittelfeld. Im Viertelfinale gegen Frankreich beorderte er Lahm wieder zurück auf die Außenbahn. Anders als bei der letzten EM, als ihm nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien Coachingfehler vorgehalten wurden, zahlte sich Löws Experementierlust in Brasilien aus.
Die 24 EM-Teams
Gruppe A. Albanien: Trainer Gianni De Biasi ist Italiener, kennt sich mit Beton aus und wird albanischer Rehakles.
Foto:
dpa
Frankreich: Mannschaftsstreik besiegelt Vorrundenaus, dann Platzbesetzung und nächtliche Luxussteuer-Debatten.
Foto:
dpa
Rumänien: Spielt Rumänaccio. Zwei Viererketten und knoblauchlastiges Essen sorgen für drei torlose Remis.
Foto:
dpa
Schweiz: Natis raus! Natis raus! Natis raus! Oh, Verwechslung. Fondue, nicht FPÖ. Na dann: Hopp, Schwiiz!
Foto:
dpa
Gruppe B. Wales: Gareth Bale, der auf dem Bild leider fehlt, hat ein Patent auf seinen Herzchen-Torjubel. Er wird Torschützenkönig – wenn er denn spielt. <3 <3 <3 <3 <3 <3
Foto:
dpa
England: Die jungen Wilden singen „God save the queen“ in der Sex-Pistols-Version und rasieren die Gegner.
Foto:
dpa
Gruppe F. Österreich: Hat 15 Bundesliga-Profis im Kader. Mehr als der DFB. Fühlt sich an wie Hoffenheim gegen Ingolstadt.
Foto:
dpa
Portugal: Cristiano Ronaldos Fußballkunst täuscht über seine eigentlichen Fähigkeiten hinweg: sexy Sixpack und viel Haargel.
Foto:
dpa
Island: Underground-Geheimtipp. An dieser Stelle könnte Holland stehen. Siehe auch: Niederlande, Niederlage.
Foto:
dpa
Ungarn: Trés chic: Torhüter-Greis Gabor Kiraly (40) steigt zur Fashion-Ikone auf. Powered by Karl Lagerfeld.
Foto:
dpa
Angesichts der Problemzonen und der schwer einschätzbaren Personallage wird dieses Mal in Frankreich womöglich eine noch größere Flexibilität erforderlich sein. Joachim Löw hat bereits angedeutet, dass die Dreierkette, wie sie die Spieler des FC Bayern kennen, ein Mittel seiner Wahl werden könnte. Das Nationalteam befindet sich in einer komplizierten Übergangsphase. Die Europameisterschaft in Frankreich ist für die DFB-Elf möglicherweise „nur“ ein Zwischenschritt. Angesichts der Herausforderungen könnte es aber ein ganz großer werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei!
Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“